SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

24JAN2022
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Eins der bekanntesten Jesus-Worte ist für mich zugleich eins der schwierigsten: Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. Ich frage mich, wie viele geschlagene Frauen und misshandelte Kinder diese Worte aus der Bergpredigt tief verinnerlicht hatten im Laufe von 2000 Jahren. Je länger ich darüber nachdenke, umso ungesünder klingen sie für mich: Wehr dich nicht! Halte still. Dieses Jesus-Wort macht mich ratlos, solange ich nicht genau hinschaue.

Näher hinzusehen lohnt sich in diesem Fall aber. Der Neutestamentler Walter Wink hat das getan:  Er stellt sich die Szene bildlich vor: Da stehen zwei einander gegenüber. Der eine schlägt den anderen auf die rechte Wange. Dazu müsste er eigentlich die linke Hand benutzen. Ein Unding! Denn mit der Linken wurden damals ausschließlich „unreine“ Dinge erledigt. Noch nicht einmal geschlagen hätte man damit. Bleibt als einzige Alternative ein Schlag mit dem Handrücken der Rechten.

So schlugen Herren ihre Sklaven oder Eltern ihre Kinder. Solch ein Schlag brachte Herrschaftsverhältnisse zum Ausdruck. Er sollte gezielt demütigen und erniedrigen. Das Opfer war schon vorher nicht in der Position, sich wirklich zu wehren. Für einen Schlagabtausch auf Augenhöhe kommt ein Schlag mit dem Handrücken jedenfalls nicht infrage.

Wenn der geschlagene Sklave aber nun den Kopf dreht und dem Angreifer die linke Wange entgegenhält, dann funktioniert das Ganze nicht mehr! Auf einmal ist da die Nase im Weg. Der Schläger steht blöd da. Er muss entweder aufhören – oder so schlagen, wie man nur Ebenbürtige schlägt: Mit der Faust oder mit der Innenseite der Hand.

Eine kleine Geste nur – eine Kopfbewegung – und die Machtverhältnisse haben sich geändert. Damit ist noch längst nicht alles gut, aber der Sklave signalisiert dem Herren: „Ich bin ein Mensch, genau wie du. Du kannst mich verachten, aber nicht demütigen. Ich lasse das nicht mit mir machen.“

Jesu Worte richten sich an Menschen in einer ohnmächtigen Position. Ihnen eröffnet er einen Spielraum, in dem sie handeln können. Wer sich ohnmächtig fühlt, wird teilmächtig. Es geht nicht ums stille Erdulden, sondern um gewaltlosen Widerstand.

Je mehr ich darüber nachdenke, umso kreativer finde ich diese Lösung. Sie zeigt einen scharfen Blick fürs Detail und ein feines Gespür dafür, wie sich die Logik von Gewalt und Gegengewalt durchbrechen lässt. Die linke Wange auch hinhalten – vielleicht brauchen wir mehr solche kreativen Lösungen in unserer gewaltbereiten Zeit.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34724
weiterlesen...