SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

27JAN2022
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Vor kurzem habe ich einen verstorbenen Bekannten gegoogelt. Er wohnte in unserer Nachbarschaft, als Kind bin ich ihm fast täglich über den Weg gelaufen. Neugierig habe ich in einem Wikipedia-Artikel über sein Leben gelesen und war schockiert und erschüttert. Einiges spricht dafür, dass er als Wissenschaftler über unmenschliche Versuche in Konzentrationslagern, z.B. in Auschwitz, informiert war und während des Dritten Reichs aktiv Informationen über solche Versuche erfragt hat, um seine eigene Forschung weiterzutreiben. Plötzlich rückte an einem kalten Wintertag das Grauen dieser Zeit leibhaftig und sehr unangenehm nahe. Ich bin immer noch etwas fassungslos: War der Professor ein aktiver Nazi gewesen? Ich habe ihn als stets freundlichen Mann in Erinnerung. Doch: Die Gesinnung eines Menschen ist nicht an einem Lächeln abzulesen oder daran, ob er freundlich mit Kindern umgehen kann. Wenn es stimmt, was im Netz über ihn vermutet wird: Wie lebt man mit so einer Schuld? Oder hat der Mann seine Vergangenheit nach dem Zusammenbruch des dritten Reichs in die Schublade des Vergessens gelegt? So wie viele andere Menschen auch? Tatsache ist, dass sehr viele Täter nach dem Krieg unbehelligt geblieben sind, am Ende noch hochdekoriert. So wie unser Bekannter. Er ist hochaltrig gestorben, geehrt mit dem Bundesverdienstkreuz.

Weil es solche Geschichten wie die meines verstorbenen Bekannten gibt, finde ich es so wichtig, dass wir in Deutschland eine Erinnerungskultur pflegen. Heute, am 27. Januar, denken wir an die Befreiung von Auschwitz 1945. Dort sind mehr als zwei Millionen Juden vergast worden. In Auschwitz wurden auch entsetzliche Versuche an Menschen durchgeführt. Ich finde, die Opfer haben es verdient, dass wir sie und ihre furchtbaren Leiden nicht vergessen. Und was die Täter betrifft: Vergessen oder Verdrängen macht ihre Verbrechen nicht ungeschehen, im Gegenteil. Ungesühnte Schuld kann weiter unheilvoll wirken, das wissen wir heute dank der psychologischen Forschung. Über Generationen hinweg konnten die Traumata des Nationalsozialismus und des Krieges verhängnisvoll weiterwirken, weil über die Schrecken nicht gesprochen wurde.

Viele Täter wurden nie vor einem Gericht zur Verantwortung gezogen. Deshalb ist mir das biblische Bild vom Weltgericht ein echter Trost. Nach christlicher Vorstellung müssen alle Menschen für ihr Leben vor Gott geradestehen. Darin steckt eine große Hoffnung! Es geht beim Weltgericht nicht um Gewaltphantasien in Form von Höllenstrafen, sondern darum, Verantwortung übernehmen zu müssen. Ich finde es tröstlich, dass kein Täter einfach so davonkommen wird, dass jede und jeder sich einmal vor Gott rechtfertigen muss – gerade auch wenn ihn oder sie die weltliche Gerechtigkeit nicht zur Rechenschaft gezogen hat. Es wäre – so finde ich – unerträglich, wenn die Opfer mit ihrem Leid und ihrer Geschichte alleine bleiben würden. Ich jedenfalls glaube daran, dass sie nicht ungesühnt bleiben. Nur so kann es Hoffnung und Zukunft geben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34697
weiterlesen...