SWR2 Wort zum Tag

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Die biblische Erzählung vom so genannten „Sündenfall“ schildert, wie es zu einem scheinbar unmotivierten Zwischenfall im Paradies kam: Der Mensch hatte ja im Grunde alles, was er zum Leben braucht. Nur eines fehlte ihm: die Einsicht in die tieferen Zusammenhänge dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, was für das Leben gut und för-derlich beziehungsweise schlecht und abträglich ist. Weil er jedoch mit Verstand und Freiheit begabt war und empfänglich für kritisches Fragen, gewann er Interesse an einem Baum in der Mitte des Gartens, von dem es hieß, seine Früchte verschafften Einsicht in den letzten Zusammenhang von Gut und Böse.
So erzählt es der Mythos am Anfang der Bibel. Einen Mythos nenne ich ihn, weil hier nicht eine historische Begebenheit erzählt wird, die sich irgendwann einmal in grauer Vorzeit zugetragen hat. Vielmehr wird eine grundlegende Wahrheit über das Wesen des Menschen und sein Leben dargeboten – im Gewand einer Erzählung.
Deshalb empfinde ich es auch nicht als einen Unfall, dass der Mann und die Frau im Para-dies von der Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen essen. So als hätten die Beteiligten eben etwas besser darauf acht haben müssen, was sie tun. Es geht um die Freiheit des Menschen und um das Wagnis der Freiheit. Der Mensch tritt aus seiner „träumenden Unschuld“ heraus in den Kreis verantwortlichen und selbst verantwortenden Handelns. Das geht nicht ohne das Risiko, schuldig zu werden, und es geht nicht ohne Scham angesichts eines dämmernden Schuldbewusstseins.
Die Bibel gebraucht hierfür die Metapher der Nacktheit: Der Mann und die Frau im Para-dies erkannten, dass sie nackt sind, und sie schämten sich. Das ist ein feinfühliges Bild für die Veränderung im Bewusstsein, die sich da ereignete: Alles bekam plötzlich eine Wertung. Nichts mehr war einfach nur so, wie es eben zuvor noch war. Die Unbescholtenheit, die kindliche Naivität war wie weggeblasen. Mit einem Mal gab es gut und schlecht. Es gab ein Gespür für Schuld und Unschuld. Und man konnte sich diesem Zwang, alles beurteilen zu müssen (einschließlich sich selbst), nicht mehr entziehen.
Es ist daher naheliegend, dass der Mensch im Paradies erst einmal mit Verteidigungsstrategien und Schuldzuweisungen reagiert. Von Gott zur Rede gestellt schiebt der Mann die Verantwortung auf seine Frau ab. Und die zeigt mit dem Finger auf die Schlange. Doch die Schuldfrage löst nicht die Probleme. Wie kann entstandener Schaden bewältigt werden? Wie können geschlagene Wunden geheilt werden? Es geht nur über das Eingeständnis eigener Fehler und über das Verzeihen. Nur auf diesem Weg kann es einen neuen Anfang geben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=3457
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