SWR2 Wort zum Tag

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Die Schlange aus der biblischen Paradiesgeschichte hat eine merkwürdige Karriere hinter sich. Es gab eine Zeit, da galt sie als Verkörperung des Bösen schlechthin. Als Maske des Teufels höchstpersönlich. Als Inbegriff der Verführung des unschuldigen Menschen zum Bösen, zum Ungehorsam, zur Sünde. Ihre gespaltene Zunge und die Tatsache, dass sie sich häutet, trugen zu dieser Denunziation bei. Und immer wieder wurde den Frauen als „dem schwachen Geschlecht“ ein unseliges Bündnis mit der verführerischen Schlange un-terstellt.
Irgendwann hat sich die Schlange allerdings von ihrem schlechten Ruf emanzipiert. Mit einem Mal erkannte und schätzte man ihre Raffinesse und entdeckte sie für die Werbung. (Und das ist ja für jede Karriere förderlich.) Seither kann sich die Schlange aus dem Para-dies vor Aufträgen nicht mehr retten: Ob zwei nackte Schönheiten mit Jeans versorgt werden müssen oder ob sie mit einem Kleinwagen beglückt werden, um damit sogleich aus dem Paradies ausbüchsen zu können – immer wieder ist die Schlange die gefragte Hauptakteurin. Sie ist es, der es perfekt gelingt, jemanden zu etwas zu verführen, was er eigentlich nicht will oder woran er zumindest nicht denkt.
Genau genommen ist auch dieses Bild der Schlange nicht besser, denn sie ist immer noch Subjekt der Manipulation und der Verdrehung – wenngleich dies in den Augen der werbe-treibenden Industrie anders gewertet wird. Dabei hat es die Schlange längst verdient re-habilitiert zu werden, denn ihre Identifikation mit dem Bösen ist reine Projektion. Die Schlange aus der Paradieserzählung hat mit dem Teufel nichts zu tun. Sie ist auch nicht böse. Genau genommen hat sie von Gut und Böse so wenig Ahnung wie der Mensch im Paradies. Auch sie hat nicht hinter dieses Geheimnis blicken können.
Aber die Schlange hat die Macht kritischen Nachfragens erkannt. Sie weiß und spürt, dass es für den Menschen, der sich seiner Freiheit bewusst ist, nicht angehen kann, Verord-nungen oder Verbote einfach unhinterfragt hinzunehmen. An dieser Stelle ist sie dem Menschen in der Paradieserzählung voraus, aber auch verwandt. Sie weckt ihn aus dem Dämmerschlaf seiner noch kindlichen Naivität und fordert ein, er solle von seiner Gabe der Einsicht und des Verstehens Gebrauch machen.
Im Grunde verführt die Schlange den Menschen nicht, sondern führt nur aus, was in ihm selbst angelegt ist: das kritische Nachhaken, das Streben nach Einsicht, das „sapere au-de“ – „Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen.“ Die Schlange ist ein Spiegel des Menschen: Sie ist so ambivalent wie er, aber auch genauso liebenswert.
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