SWR1 Begegnungen
Christopher Hoffmann trifft Pfarrerin Sandra Gassert, Notfallseelsorgerin in den Krisengebieten dieser Welt
Teil I
Pfarrerin Sandra Gassert ist immer dann im Einsatz, wenn Menschen in einer schweren Krise sind. So war sie als Notfallseelsorgerin für die Menschen da, die nach dem 11.September 2001 aus New York nach Deutschland zurückkamen. Oder für die Urlauber nach dem Tsunami 2004. Außerdem steht sie Eltern und Familien im ambulanten Kinderhospiz in München in den schwersten Stunden zur Seite. Seit 2016 hat die 47-Jährige eine weitere Aufgabe übernommen: Sie ist Seelsorgerin für die Seenotrettungscrews im Mittelmeer. Und das beginnt schon vor deren Einsatz: Sandra Gassert versucht die Helfenden vorab mit möglichen Problemen zu konfrontieren. Denn Rettungssanitäter oder Krankenschwestern aus Deutschland haben zum Beispiel trotz ihres medizinischen Hintergrunds oft noch keine Folteropfer oder Schusswunden gesehen. Und auch die Rettung von Menschen ist mit enormem Stress verbunden:
Dann sieht man überfüllte Rettungsschiffe, die hoffentlich noch schwimmen und viele, viele Menschen, die sich daran klammern und die gerettet werden möchten. Und die Leute haben solche Angst, solche Angst vorm Ertrinken und solche Angst nach Libyen zurückgebracht zu werden.
Von den Seenotrettungskräften hört Sandra Gassert, was Menschen in Libyen widerfährt:
Die Leute werden in Lagern gehalten bis sie dann ausreisen dürfen für viel Geld. Und wer kein Geld hat, der muss das Geld verdienen. Und Frauen werden ganz oft in die Prostitution gezwungen ohne Verhütung, ohne Schutz. Und erst wenn sie sichtbar schwanger sind, lässt man sie gehen. Und was dann aus den Kindern wird interessiert diese Menschen nicht.
Das Mittelmeer ist die tödlichste Seeroute der Welt. Laut UNO-Flüchtlingshilfe haben in den ersten sechs Monaten dieses Jahres mehr als 850 Menschen die Überfahrt nicht überlebt oder werden vermisst. Was macht das mit den Helfenden, die eigentlich Menschenleben retten wollen?
Man trifft auch auf leere Schiffe, wo man nicht weiß: Sind die Leute ertrunken? Oder: Was ist mit den Leuten passiert? Es bleibt oft unklar. Und manchmal sieht man sie einfach auch treiben und dann weiß man, was passiert ist. Und dann machen sich die Helfenden die Aufgabe zu eigen die zu fotografieren, die Toten. Irgendwo auf der Welt wartet ja jemand auf eine Nachricht. Und das ist wirklich hart. Und ich halt das einfach mit aus.
Wie verarbeitet Sandra Gassert das alles, frage ich mich. Der Pfarrerin hilft dabei ihr Partner und ihre beiden Töchter im Teenageralter. Ihr helfen Wanderungen mit ihrem Hund in der schönen Voralpennatur. Und ihr hilft ihr Glaube:
Für mich ist Gott schon eine große Quelle der Kraft und der Resilienz. Einfach auch zu wissen: Ich muss nicht alles selber können, sondern da gibt’s was Größeres, was mich auch hält und dem ich aber auch Dinge anvertrauen kann. Also einer, der auch im Sturm neben mir sitzt, ja? Das ist mir ganz wichtig.
Teil II
Ich spreche mit der Pfarrerin Sandra Gassert, die nach Hochwassern oder Flugzeugabstürzen Menschen in Krisensituationen begleitet und auch für die Seenotrettungscrews im Mittelmeer vor, während und nach ihren Einsätzen da ist. Sandra Gassert ist in unserem Gespräch immer ganz klar, so auch bei meiner Frage, warum sie sich all diesen Extremsituationen stellt:
Ich mach das nicht, weil ich es gut finde, sondern weil ich es kann. Und ich finde es auch nicht gut, dass es Leute braucht, die in Krisengebiete fahren und dort arbeiten oder nach Flugzeugabstürzen oder Terroranschlägen da sind. Aber aus irgendeinem Grund kann ich das. Und deswegen mach ichs.
Die Pfarrerin ist regelmäßig auf Malta oder in Palermo, um als Seelsorgerin für zivile Seenotretter da zu sein. Das Miteinander mit der internationalen Crew ist für sie auch ein Ort von Kirche:
Also wir sind alle Geschöpfe Gottes, wir sind Geschwister. Ich hab so großen Respekt vor diesen jungen Leuten, mit welchem Engagement und mit welcher Liebe die dahin gehen. Und wir brauchen keine Kirche, um Gottes Familie zu sein-wir sind es auch auf einem Schiff. Und auch wenn keiner vorne steht, der einen Ritus macht, der Ritus kommt von allein, wenn wir den großen Fragen begegnen: Wohin gehen wir? Woher kommen wir? Gott ist sowieso immer dabei, ob man von ihm spricht oder nicht.
Die großen Fragen – sie stellen sich, weil es auf dem Mittelmeer um Leben und Tod geht. Denn da es keine staatliche Seenotrettung gibt, sind die Freiwilligen von Organisationen wie Sea Eye oder Sea-Watch die einzigen, die Menschen vor dem Ertrinken retten. Die evangelische Kirche hat inzwischen ein eigenes Rettungsschiff ins Mittelmeer geschickt, auch katholische Bistümer wie Trier, München und Paderborn unterstützen die Seenotrettung, die eigentlich eine europäische Aufgabe wäre. Es gibt keine einfachen Antworten im Mittelmeer, findet Sandra Gassert. Doch solange die EU nichts unternimmt, muss es zivile Seenotrettungsschiffe geben, denn :
Ertrinken lassen können wir auch keinen. Das ist unmöglich! Da würden wir unsere ganze Humanität aufgeben. Es muss andere Lösungen geben, dass Menschen nicht diesen Weg gehen müssen.
Etwa humanitäre Visa und die Bekämpfung von Fluchtursachen. Damit sich Menschen gar nicht mehr auf die lebensgefährliche Reise begeben. In all ihren Aufgaben als Notfallseelsorgerin versucht Sandra Gassert den Menschen beizustehen- und das hat wesentlich mit ihrem Gottesbild zu tun:
Wir haben keinen abgehobenen Gott. In Jesus haben wir den Bruder, der das versteht wie es ist, wenn es einem richtig schlecht geht, wenn man stirbt und wenn man leidet und der das mit aushalten kann und sagt: Egal was kommt, ich halt das mit aus, ich weiß wie das ist. Dieser Jesus, der einfach mitgeht, auch in die dunklen Täler, das ist so genau meins.
Und diesen menschgewordenen Gott, den spürt Sandra Gassert ganz besonders dann, wenn sie in seinem Namen unterwegs ist auf dem Mittelmeer oder im Kinderhospiz oder nach einer Katastrophe- um Menschen zu helfen.
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