SWR2 Wort zum Tag

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16NOV2021
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„Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.“ Diesen Satz habe ich zum ersten Mal aus dem Mund meiner Großmutter gehört. Ich war sprachlos, denn das sch-Wort zu benutzen, war mir strengstens verboten. Und dann kam auch noch der Teufel vor! Es musste sich um eine ungeheuerliche Sache handeln, wenn meine Oma so drastische Ausdrücke benutzen durfte. Sie gehörte zu der Generation von Frauen, die im Krieg alles verloren haben. Aus dem Nichts alles wieder aufbauen mussten. Und sie hatte ein sehr feines Gespür dafür, wenn es im Leben nicht gerecht zuging. Wenn diejenigen, die sowieso schon genug oder viel zu viel hatten, immer noch eins obendrauf bekamen. Und andere sich abrackerten, ohne je auf einen grünen Zweig zu kommen.   

Gewundert hätte sich meine Großmutter darüber, dass ihre Lebensweisheit schon in der Bibel steht. Und dass Jesus, den sie im Leben fest auf ihrer Seite wusste, diesen fiesen Teufel sogar noch bestätigt. Denn einmal schließt er eine Erzählung mit den Worten: „Wer etwas hat, dem wird noch viel mehr gegeben, er bekommt mehr als genug.“

Der amerikanische Soziologe Robert Merton hat diesen Zusammenhang untersucht und herausgefunden: Es stimmt! Wer schon etwas hat, der bekommt immer noch etwas dazu. Das gilt nicht nur für Investmentbanker. Auch im Bildungsbereich lässt es sich nachweisen: Bekannte Wissenschaftler werden häufiger zitiert als unbekannte. Und es fängt schon in der Schule an: Leistungsstarke Schülerinnen profitieren viel stärker vom Unterricht als Leistungsschwache. Robert Merton hat dieses Prinzip den Matthäus-Effekt genannt, weil der Satz im Matthäusevangelium steht. Diesen Effekt zu leugnen, wäre kurzsichtig. Auch Jesus hat die Augen vor der Realität nicht verschlossen.  Und nur, was ich sehe, kann ich auch ändern.

Denn ich möchte diesem fatalen Zusammenhang etwas entgegensetzen. Das nenne ich mal den Lukas-Effekt. Denn im Lukasevangelium sagt Jesus: „Wem viel gegeben wurde, von dem wird viel verlangt. Und wem viel anvertraut wurde, von dem wird umso mehr gefordert.“ Und so nehme ich es nicht einfach als gegeben hin, dass Erfolg zu Erfolg führt, sondern frage danach, welche Verpflichtungen sich daraus ergeben. Ein paar Jahre lang bin ich zum Beispiel einmal in der Woche als Lesepatin in eine Grundschule gegangen. Dort habe ich mit Kindern, denen das schwergefallen ist, das Lesen geübt. Zusammen haben wir uns gefreut, wenn aus Buchstaben Sätze geworden sind und Wörter plötzlich Sinn ergeben haben. Und vielleicht haben wir sogar hie und da dem Teufel ein Schnippchen geschlagen, wenn er sich mal wieder auf einen der großen Haufen setzen wollte. 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34221
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