Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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11NOV2021
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Heute ist Martinstag. Sankt Martin hat es geschafft. Er ist ein Heiliger geworden, den nun wirklich jedes Kind kennt. Heute laufen sie wieder mit ihren bunten Laternen durch die Straßen und singen und spielen seine Geschichte. Wie Martin durch Schnee und Wind reitet, hoch zu Ross. Wie er vor den Toren der Stadt einen armen Mann sitzen sieht, der nur Lumpen anhat. Wie er mit seinem Schwert den roten Soldatenmantel in zwei Teile teilt und eine Hälfte dem frierenden Bettler gibt. Wie der aufspringt und ihm danken will, Sankt Martin aber schon über alle Berge ist.

Wenn der Umzug zu Ende ist, gibt es meistens noch ein Feuer, Punsch und frisch gebackene Hefemännchen. Die werden natürlich gerecht geteilt wie einst der rote Mantel. 

Teilen ist eine gute Sache. Das wird niemand bestreiten. Nicht nur Mäntel und Hefeteilchen, auch Zeit und Geld. Mut und gute Ideen.

Am Haus der Begegnung in der Heidelberger Altstadt erinnert ein Kunstwerk an den Heiligen Martin. Es ist ein abstraktes Kunstwerk: Eine gebogene Lichtröhre deutet den Heiligenschein an, der Martin und seine Großzügigkeit in helles Licht taucht. Auf zwei Stangen hängen seine beiden roten Mantelhälften. Am besten gefällt mir aber der Schriftzug, der dem Ganzen seinen Namen gibt: Teilen macht ganz, steht da zu lesen.

Aber der rote Mantel wird doch nicht ganz, wenn er in zwei Hälften geteilt wird. Im Gegenteil. Er geht kaputt. Deshalb hat der Künstler, Harald Kröner, auch zwei zerrissene Mantel-Hälften ausgestellt. Zerrissen wie der Mantel ist auch unsere Gesellschaft, in der immer weniger Menschen immer mehr besitzen und immer mehr Menschen immer weniger. Teilen macht ganz? Das scheint ein Widerspruch zu sein. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft weit auseinander - bis einer kommt und mit ihr einen Mantel durchschneidet. So wie Martin. Seine einfache Geste zeigt, wie es anders gehen kann: Der Bettler, der nichts hatte, wird ein ganzer Mensch. In Würde eingehüllt. Er kann aufrecht stehen. Und gehen. Und Martin, der die eine Hälfte abgegeben hat, wird auch ganz. Ein ganzer Mensch, der nicht nur auf das seine sieht, sondern auf das, was dem andern nützt.

Es klingt so einfach, es geht auch ganz leicht: Brich mit den Hungrigen dein Brot. Sprich mit den Sprachlosen ein Wort, sing mit den Traurigen ein Lied, teil mit den Einsamen dein Haus. Frag nicht, wie es sein kann, dass einer nichts hat. In unserem Land, in dem doch keiner verhungern muss. Öffne dein Herz und deine Hand. Teilen macht ganz. Auch dich.

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