Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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09NOV2021
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Ich wollte es zuerst nicht glauben: Polen baut eine Mauer an der Grenze zu Belarus. Das Wort „Mauer“ nehmen die Verantwortlichen allerdings nicht in den Mund. Sie reden von einer „Barriere“ zum Schutz vor illegalen Einwanderern. Aber es ist eine Mauer, gebaut um Menschen einzusperren oder auszugrenzen! Das ruft Erinnerungen wach an einen Tag im Sommer vor 60 Jahren hier bei uns. Da wurde die Berliner Mauer gebaut: Stacheldrahtrollen, Menschen, die aus Fenstern springen, verzweifelt gegen Barrikaden anrennen. Verantwortlich damals: der Regierungschef der DDR, Walter Ulbricht. Aber auch er hat natürlich keine Mauer gebaut, sondern einen „antifaschistischen Schutzwall“. 28 Jahre lang hat die Mauer Berlin in zwei Hälften zerrissen und war das Symbol für die Teilung eines ganzen Landes. Dann kam der 9. November 1989. Heute vor 32 Jahren. Wie elektrisiert habe ich damals die Ereignisse vor dem Fernseher verfolgt. Mit eigenen Augen habe ich gesehen, wie sie zuerst überwunden und schließlich abgerissen wurde. 

Damals dachte ich tatsächlich, dass nun das Ende aller Mauern gekommen sei. Aber das war ein Trugschluss. Neue wurden gebaut: An der Grenze zwischen Mexiko und den USA. An der Grenze zwischen Israel und Palästina. Und nun in Polen und in Litauen. Ein Schutz soll sie sein und Probleme von uns fernhalten. Aber ein Problem aussperren heißt nicht, es lösen. Nichts ist gelöst. Stattdessen schotten wir uns ab und sperren andere aus.

„Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ So steht es in der Bibel. Ich weiß nicht, ob Menschen in der DDR das glauben konnten. Ob es ihnen nicht sogar zynisch vorkam, wenn wieder ein Versuch gescheitert war, über oder unter dieser Mauer durch zu kommen. Fest steht aber, dass die Hoffnung auf das, was nach menschlichem Ermessen total unmöglich schien, nicht unterzukriegen war. Auch in vielen Kirchen wurde sie befeuert. Dort, wo Gott nicht für tot erklärt war. Und wo schließlich die Hoffnung immer größer wurde, dass es doch passieren könnte: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ Wichtig ist mir, dass der Satz nicht heißt: „Mein Gott bringt alle Mauern zum Einstürzen“, und ich muss nur abwarten und kann gar nichts dazutun. Nein, da steckt Aktion drin: Ich kann Gott auf meine Seite ziehen, ihn packen und rufen: Auf, jetzt schaffen wir es! Mit dir kann ich über Mauern springen.“ Genauso ist es dann gekommen: Lachende, singende, tanzende Menschen, die sich in die Arme fallen. Vor der Mauer. Hinter der Mauer. Auf der Mauer. Und Gott? Ganz bestimmt mittenmang dabei.

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