SWR2 Wort zum Tag

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12OKT2021
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Wenn man wie ich über die 80 ist, dann wird eines immer weniger selbstverständlich: dass ich noch da bin und heute Morgen die Augen öffnen konnte. Das ist zwar von Geburt an erstaunlich, und jeder Tag ist ein Geburtstag.  Aber mit den Jahren nimmt nicht nur die Routine zu, sondern das Staunen und auch die Dankbarkeit: Das Licht der Welt erblicken, ist eine unendliche Geschichte, jeden Tag neu. Kein Wunder, dass Morgenrituale zur Spiritualität aller Völker gehören.

Der feinsinnige Religionsphilosoph Romano Guardini praktizierte täglich folgendes Gebet: „Immerfort empfange ich mich aus deiner Hand. So ist es und so soll es sein. Das ist meine Wahrheit und meine Freude.“ Betend erklärt er sich einverstanden mit seinem Dasein heute. Er muss sich nicht produzieren und erst beweisen.  Er weiß sich bejaht und spricht das auch aus. Wunderbar entspannend, sich derart gewollt und geliebt zu wissen. Ich bin kein Blindgänger der Evolution, ich bin kein überflüssiges Rädchen im Weltgetriebe. Nein: Ich darf da sein, wie ich jetzt bin. Ich weiß mich angenommen und ermutigt. Ja, ich bin Gottes Geschöpf und brauche nie bei null anzufangen.

Guardini fährt fort: „Immerfort blickt dein Auge mich an, und ich lebe aus deinem Blick, du mein Schöpfer und mein Heil.“ Betend weiß er sich angesehen. Es ist offenkundig nicht das Kontrollauge des großen Bruders, es ist nicht der kritische Blick, der scharf ist auf die Schwächen und Fehler. Nein es ist der Blick reinen Wohlwollens. Von Anfang an ist es ja so: wir gewinnen Ansehen, weil wir von anderen bejahend und wertschätzend angesehen werden. Wer blüht nicht auf, wenn er aufrichtig gelobt wird. So beginnt Guardini diesen Tag und jeden. „Ich lebe aus deinem Blick“, ich bin gewollt und werde gesehen, angesehen – und zwar so wie ich bin, nicht wie ich sein soll.

Deshalb zum Schluss die Bitte: „Lehre mich in der Stille deiner Gegenwart, das Geheimnis zu verstehen, das ich bin. Und das ich bin durch dich und vor dir und für dich.“ Ob nicht, wer sich solche Stille gönnt, klarer in den Tag geht, fröhlicher und gelassener. Ich wünsche es Ihnen und mir.

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