SWR2 Wort zum Tag

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11OKT2021
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Vor kurzem war ich mit einer Gruppe in Mailand. Nicht der Fußball war der Anlass, auch nicht das Abendmahl von Leonardo da Vinci oder der Dom. Wir waren in S. Ambrogio und wollten das Lebenswerk eines Mannes entdecken, der dort begraben liegt: Ambrosius von Mailand. Seine Hymnen werden bis heute gesungen und gebetet. Dieser Bischof aus dem 4. Jahrhundert gehört zu den Gründergestalten der westlichen Christenheit, seine Morgenlieder haben es in sich.

Noch im Morgengrauen richtete man sich damals aus auf das unglaubliche Tagesereignis, den Aufgang der Sonne, dankbar und voller Erwartung. „Ewiger Schöpfer aller Dinge, der du Tag und Nacht regierst und den Zeiten die Zeiten gibst, damit du den Überdruss milderst …“ So lautet die erste Strophe. Schon Ambrosius kannte offenkundig die Schwierigkeit, aus den Federn und in die Gänge zu kommen. Dass er gleich von Frust und Langeweile spricht, macht ihn mir sympathisch. Und dass mit dem Aufgang der Sonne die Chance gegeben ist, dem Tag Struktur zu geben – den Zeiten ihre Zeit – ist ebenfalls realistisch. Ganze vier Strophen lang besingt Ambrosius dann den berühmten Hahn auf dem Mist und dem Kirchendach, der früher den Tag einkrähte. „Stehen wir also entschlossen auf, der Hahn weckt die Liegenden, er scheucht die Schlaftrunkenen“, heißt es da. Denn „Beim Hahnenschrei kehrt die Hoffnung zurück, den Kranken wird wieder Heilung eingegossen.“Ob wir heute, viel prosaischer, vom Wecker sprechen sollten?

Und dann folgt die Strophe, die mich besonders anrührt: „Jesus, blicke die Fallenden an, und richte uns auf durch deinen Blick.“ Beten ist ja etwas Intimes, inniger Blickkontakt erst recht. Dass er uns im Auge hat und wir ihn, das hilft beim täglichen Aufstehen. Lateinische Worte wie lapsus und labil sind uns immer noch geläufig, und wer wüsste nicht von Unfällen oder Hinfälligkeit. „Die Welt ist das, was der Fall ist“, sagte der Philosoph Wittgenstein. Ambrosius verbindet den Sonnenaufgang mit dem Blick Jesu. Der macht nicht nieder, der richtet auf. Sich derart im Licht seiner Liebe angeschaut zu wissen, gibt dem Tag eine besondere Richtung und Struktur.  

Zwar ist der Hahn längst verschwunden, im städtischen Leben jedenfalls. Und selbst das morgendliche Vogelgezwitscher ist selten zuhören. Aber dass für unsereinen wieder die Sonne aufgegangen ist, darf gewürdigt werden –  und der neue Tag mit seinen Möglichkeiten. „Jesus, richte uns auf durch deinen Blick“.

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