SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

07OKT2021
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Fünf Menschen stehen im Kreis, sie nehmen sich an den Händen, beugen die Köpfe und schließen die Augen. Sie stehen eng beieinander im Wohnzimmer. Der Vater ergreift das Wort. Er betet. Er dankt, für das Essen, für die Wohnung, für den neuen Job der Mutter, für die Erfolge der Kinder an der Schule. Und er bittet um Frieden in dem Viertel, in dem sie leben.

Mich hat diese Szene angerührt. Ich habe sie in einem Jugendbuch gelesen: „The hate you give“ von Angie Thomas. Das Buch erzählt die Geschichte eines afro-amerikanischen Mädchens in den USA: Sie hat es nicht leicht und erlebt in ihrem Wohnviertel viel Gewalt und Unterdrückung. Sie ist aber auch jung und sucht ihren Weg hinein ins Leben. Und in einem Moment der Unsicherheit betet die Familie miteinander. Das gibt ihnen Kraft. Sie finden Halt beieinander und bei Gott. Ich kann mir gut vorstellen, dass das gut tut.

Ich selbst kenne diese Art zu beten nicht. Wenn ich mir vorstelle, dass ich plötzlich in so einem Kreis stehe und laut und frei beten soll, dann weiß ich, dass mir das unangenehm wäre. Laut beten, ganz frei, mit anderen gemeinsam. Uh, das ist nicht meins. Ich schicke eher mal ein Stoßgebet oder einen kurzen Dank gen Himmel, mitten im Leben, so wie es eben passt. Ganz für mich. Mit anderen gemeinsam bete ich nur das Vaterunser und die Fürbitte in der Kirche.

Eine Bekannte hat mir mal erzählt, sie bete gar nicht. Nur manchmal, wenn ihr alles zu viel werde, dann schließe sie kurz die Augen und atme tief durch. Und dann gehe es ihr besser. Ist das ein Gebet?

Auf jeden Fall ist das spannend: Jede und jeder hat seine eigene Form zu Beten. Einer nimmt sich viel Zeit dafür, einer anderen reicht ein kurzer Gedankenblitz. Manche fühlen sich besonders durch die Gemeinschaft beim Gebet gestärkt, andere können das gar nicht haben und beten lieber für sich. Viele Worte, wenige Worte, gar keine Worte. Gebet kann so vieles sein.

Als ich von der betenden Familie gelesen habe, da habe ich kurz ein bisschen Neid gespürt. Es muss schön sein, so ein Ritual zu haben, das stärkt und Kraft gibt. Ich habe das nicht und es herbei zu zwingen, das funktioniert natürlich nicht. Das wäre nur Krampf, keine Kraftquelle.

Und trotzdem: Ich habe mir vorgenommen, ein wenig bewusster mit meinen Gebeten umzugehen. Und vielleicht mal etwas Neues auszuprobieren: Eine Taizé-Andacht zum Beispiel. Ich singe doch so gern. Mal sehen. Denn eins gehört sicher zum Beten dazu: Sich von Gott überraschen zu lassen. Zum Beten gehören ja irgendwie immer mindestens zwei…

Angie Thomas, The hate you give, cbj Kinder- und Jugendbuchverlag 2017

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34061
weiterlesen...