Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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08OKT2021
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Wollten Sie auch schon lange mal eine neue Sprache lernen? Wie wär‘s dann zum Beispiel mit ‚dementisch‘? Dementisch, das ist die Sprache, die Menschen verstehen und sprechen, die an Demenz erkrankt sind. Das Besondere an dieser Sprache ist, dass man keine neuen Vokabeln lernen muss. Man kennt sie schon alle, man gebraucht sie nur anders. Deshalb ist es gar nicht so schwer, diese besondere ‚Sprache‘ zu lernen. Man braucht dazu vor allem das Herz, denn dementisch ist sozusagen eine Sprache des Herzens.

Je höher unsere Lebenserwartung steigt, desto mehr ist mit Alterserkrankungen zu rechnen. Und dazu gehören eben nicht nur körperliche Einschränkungen, sondern auch psychische und geistige.

Demenz – für viele ist das ein richtiges Schreckgespenst. Und auch mir ist bange davor, im Alter so vergesslich zu werden, dass mir meine Welt fremd wird und ich mich nicht mehr orientieren kann. 

Aus meiner früheren Arbeit in der Altenpflege weiß ich: Für demente Menschen ist die Scham oft noch schlimmer als die Vergesslichkeit selbst. Und dann kommt es darauf an, sie nicht noch zusätzlich zu beschämen, etwa, indem ich alles korrigiere, was ich besser weiß. Noch besser weiß, Stand heute.

Wenn ich mir das immer wieder klar mache, dann hab ich die beste Vorbereitung, um ‚dementisch‘ zu lernen. Es geht letztlich um meine innere Haltung, die sich dann auch darin zeigt, wie ich mich nach außen verhalte. Es gibt kein Patentrezept, aber ich mache es oft so: Statt zu versuchen, eine demente Person in meine Realität zurückzuholen, folge ich ihr lieber und lasse mich in ihre Wirklichkeit führen. Denn es kann ja nicht darum gehen, wer ‚Recht‘ hat. Es geht eher darum, wie wir die Wirklichkeit erleben und wie wir sie deuten. 

Das gelingt nicht immer, nicht immer gleich gut. Eine Begegnung war für mich eine kleine Sternstunde in Dementisch. Katharina, eine sehr alte und sehr demente Frau, fragte mich zum wiederholten Mal: ‚Wo ist denn die Mama? Ich seh sie gar nicht mehr.‘ Ich antwortete: ‚Die ist schon vorausgegangen und schaut erst mal nach dem Weg. Sie wartet auf uns, da vorn, auf der Bank.‘ Ihr Gesicht entspannt sich, sie zeigt aus dem Fenster und sagt: ‚Ja, gell, gleich da vorn, im Himmel…’

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