SWR2 Wort zum Tag

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06OKT2021
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Der Philosoph Michel Foucault hat sich mit besonderen Orten beschäftigt, er nennt sie AndersOrte, oder wissenschaftlich: Heterotopien. Diese Orte sind wie Fremdkörper in einer Stadt, zugleich haben sie für die Gesellschaft eine besondere Bedeutung. Als Beispiele für solche AndersOrte nennt Foucault etwa Friedhöfe.

Ich bin sicher nicht die Einzige, die in einer fremden Stadt gerne über den Friedhof spaziert. Auch wer keine Ahnung von Michel Foucault und seiner Philosophie hat, kann auf einem Friedhof eine einzigartige Atmosphäre spüren. Ein Friedhof ist nicht nur für die Toten da, er ist viel mehr noch ein Ort der Lebenden, und das in einer sehr demokratischen Weise, denn auf einem Friedhof findet jeder Mensch seinen letzten Ruheplatz, ob reich oder arm, berühmt oder scheinbar unbedeutend.

Der Ritus der Bestattung auf dem Ort des Friedhofs bietet eine wichtige Entlastung – der Friedhof stellt sich als Ort zur Verfügung, der Anfang und Ende einer Biographie festhält. Nicht die Lebenden müssen das leisten, was eine furchtbare Überforderung wäre – der Friedhof nimmt es ihnen ab.

Der Friedhof bewahrt die Erinnerung an bedeutende Bürger einer Stadt, zugleich finden aber auch die kleinen Leute ihren Platz – und sei es auf dem anonymen Begräbnisfeld, das keine Namen der dort Bestatteten nennt. In meiner Stadt Mainz hat jeder Mensch, auch der Ärmste, das Recht, in einem Grab mit Namensschild beerdigt zu werden. Ich finde, das hat eine tiefe Weisheit und sollte beispielgebend für alle Städte in der Bundesrepublik sein! Der Tod trifft alle, Arme wie Reiche. Während es zu Lebzeiten meilenweite Unterschiede gibt, betrifft die Endlichkeit der Existenz jeden Menschen. Der Friedhof spiegelt uns diese unabänderliche Tatsache wider und zeigt uns zugleich, dass Arme wie Reiche etwas gemeinsam haben: Sie sind beim Namen genannt. Aus biblischer Perspektive hat das viel mit Gott zu tun. Er ruft Menschen beim Namen und so ins Leben. Allerdings: Während auf den Friedhöfen die Namen auch irgendwann mit der Aufhebung eines Grabes wieder gelöscht werden, hat Gott die Namen seiner Menschen in seine Hand geschrieben – Unauslöschlich, so heißt es im Buch des Propheten Jesaja.

Wir verdanken unseren Friedhöfen viel! Ein kluger Mensch hat einmal gesagt, dass Städte ohne Friedhöfe zu Städten des Todes werden. Es ist schon merkwürdig: Gerade weil wir in jeder Stadt und fast jedem Dorf Friedhöfe haben, werden wir uns des Lebens neu bewusst. Die Friedhöfe zeigen zwar die Gegenwart des Todes, zugleich hegen sie aber den Tod ein, begrenzen ihn auf ein Areal in der Stadt. Es ist schon so: Wovor ich die Augen verschließe, was ich verdränge, verschwindet dadurch nicht, sondern gewinnt eine unkontrollierte Macht. Insofern ist jeder Friedhof ein Ruf ins Leben!

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