SWR3 Gedanken

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07OKT2021
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Kennen Sie das? Dieses alte Spiel, bei dem man sich anschaut, oder vielmehr, anstarrt… tief in die Augen, und wer als erstes blinzeln muss, der hat verloren? –

Schon immer galt irgendwie: Wer cool und total gelassen bleibt, egal was passiert, der ist stark. Der kann was. Wer sich nichts anmerken lässt, gewinnt. Der besteht in dieser Zeit und in unserer Gesellschaft. Anders gesagt: Wer ein dickes Fell hat, der kommt weiter. Ein dickes Fell haben. Das hilft natürlich manchmal. Aber ist es wirklich das, was es braucht? Die Journalistin Ulla Ott meint: Nein. Im Gegenteil. Sie sagt: „Geheuchelte Gelassenheit, das ist das letzte was wir gerade brauchen.“ Und – sie meint auch: „Wir brauchen uns nach über einem Jahr Pandemie, nach Bildern von Überflutungen und Naturkatastrophen, überhaupt nicht schämen, wenn wir dünnhäutig geworden sind.“  Es brauche, so Ott, nicht noch mehr Trainings für mehr Widerstandskraft. Sondern vielmehr „Bürgerinnen und Bürger, die sich stressen lassen, die verwundbar bleiben. Damit sie … echten Widerstand leisten.“  – Mehr Dünnhäutigkeit – mehr ehrliches „Ich kann nicht mehr“ – was für eine heilsame Idee!

Für mich klingt das tatsächlich auch wie eine moderne Übersetzung einer Bibelstelle. Da heißt es nämlich: Gottes Kraft ist in den Schwachen, in den Verletzlichen, in den Dünnhäutigen besonders mächtig. Für mich heißt das: Wir müssen nicht immer cool tun. Sondern dürfen und sollen zeigen, wenn wir gestresst oder dünnhäutig sind. Nur wenn wir uns trauen, uns empfindsam zu zeigen, Nähe und Verletzlichkeit wagen und ehrlich sind mit unserer Schwäche, kann echte Solidarität entstehen - die Kraft der Gemeinschaft. Und ich glaube fest daran, dass die zur Zeit wichtiger ist, als ein Heer von Einzelkämpfern. Also los: Blinzeln!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34007
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