SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

01OKT2021
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Ich bin mit meiner Freundin in den Bergen unterwegs. Wie jedes Jahr. Wir wandern einen Berg hinauf, dabei träller ich ein altes Lied aus meiner Jugendzeit. Darin geht es um eine Frau, die sich frisch verliebt hat. Meine Lieblingszeile ist die, in der sie singt „Mit dir steht die Zeit still – du bist was ich will“. Die singe ich deshalb immer wieder besonders laut.

Nach langer Wanderung kommen wir auf dem Gipfel an und genießen schweigend den traumhaften Ausblick. Dann sagt mir meine Freundin: „Übrigens: Niemand hält für dich die Zeit still. Das musst du schon selbst für dich tun. Wie jetzt: Alles sind wir selbst hoch gelaufen. Und hier oben steht nun die Zeit für uns still“ Dazu macht sie eine bedeutungsschwere Geste, indem sie mir den Ausblick präsentiert.
Ich muss erst mal lachen, denn unsere Rollen sind seit Jahren unter uns geklärt: Ich bin gerne romantisch, während sie abgeklärt und cool daherkommt.

Ich finde aber, sie hat recht: Ich muss auch selbst dafür sorgen, dass die Zeit still steht.

Mich um mich selbst kümmern. Mal einen Tag ganz für mich reservieren, ein gutes Buch lesen oder eben eine Wanderung auf einen Berg unternehmen – es ist total wichtig, mir Zeit nur für mich zu nehmen. Und diese Zeit mit mir selbst kann auch niemand anderes für mich übernehmen. Da muss ich schon selbst ran. Als Christin muss ich dabei an das Gebot denken, das uns Jesus aufgegeben hat und sogar als das wichtigste Gebot unter allen bezeichnet: „Du sollst deinen Nächsten lieben … wie dich selbst.“ Damit sagt Jesus: Aufrichtig lieben bedeutet, erst einmal bei sich selbst anzufangen.  Sich selbst zu lieben!

Das ist gar nicht so einfach. Mir fällt es leichter, meinen Mann lieb zu haben oder meine Kinder; mir fällt es auch leichter, zu sagen, was mir an meiner besten Freundin gefällt, als zu sagen, was ich an mir besonders gut finde. Aber um meine Familie oder meine Freundin richtig lieben zu können, muss ich erst einmal lernen, mich selbst zu lieben; bevor ich mit Anderen gut unterwegs sein kann, muss ich erst einmal mit mir selbst klarkommen. Und auch mal für mich selbst die Zeit anhalten.

In diesem Moment, als ich mit meiner Freundin auf dem Berg stehe und den abenteuerlichen Ausblick genieße, da spüre ich, wie großartig es ist, wenn die Zeit still steht: Mit mir allein, mit meiner Freundin an der Seite. Und fast unbemerkt: auch mit Gott.

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