SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

21SEP2021
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„Ich bin trotz allem noch am Leben – das allein ist schon ein Wunder!“ – die Dame, die das zu mir gesagt hat, hatte gerade nach langer und anstrengender Pflege ihren Mann beerdigt. Und ich wusste einiges aus den mehr als 70 Jahren ihres Lebens. Von den Misshandlungen in ihrer Kindheit angefangen hätte sie ihr Leben erzählen können, indem sie einfach die Wunden hätte aufzählen können, die ihr das Leben und die Menschen darin zugefügt hatten.

Doch sie zählte nicht die Wunden, sondern die Wunder. Sie erzählte, wie eine Tante sie gerettet hatte aus ihrem Elternhaus mit der unterdrückten Mutter und dem cholerischen und gewalttätigen Vater. Es war ein Wunder, dass sie in eine funktionierende Familie hineinkommen konnte.

Sie erzählte nicht, wie schrecklich die Krankheit gewesen ist, unter der sie als junge Frau lange gelitten hatte. Für sie war es ein Wunder, dass ein Arzt einen Geistesblitz hatte und eine sehr seltene Krankheit bei ihr erkannte.

Der Mann, den sie fand und heiratete, starb nach nur 5 Jahren völlig unerwartet. Der gesamte Freundeskreis ließ die junge Frau damals im Stich. Aber sie sagt: „Ich war so allein. Ich wollte nicht mehr leben. Heute sehe ich darin ein Wunder, dass ich meinem Mann in diesem Schmerz nicht einfach in den Tod gefolgt bin.“

Erst viele Jahre später hat sie wieder einen Weggefährten gefunden und fast zwei Jahrzehnte mit ihm leben können. Ein Wunder für sie. Und als er dann nach langer Krankheit starb und sie sich in der Pflege völlig aufgerieben hat, da war es ein Wunder für sie, dass sie trotz allem noch am Leben war…

Vieles habe ich ausgelassen aus dem Leben dieser Dame, die mit ihrer ruhigen, aber bestimmten Art sagt, dass sie irgendwann erkannt hat, dass sie selbst die Macht hat, zu entscheiden, wie sie ihr Leben verstehen will.

Ist es eine Aneinanderreihung von Wunden oder eine lange Reihe von Wundern? Hat Gott immer wieder eingegriffen in ihr Leben? Waren da Schutzengel? Waren es Menschen, die wie ihre Tante damals Wunder vollbracht haben, weil sie einfach das Richtige getan haben?

Sie sagt einfach: „Es gibt einen Gott. Und er tut Wunder. Mal so und mal so, aber es sind Wunder. Dafür bin ich dankbar.“ Und so erzählt sie ihr Leben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33934
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