SWR4 Sonntagsgedanken

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19SEP2021
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Narziss, ein junger Mann, verliebt sich in sein Spiegelbild. Das ist eine alte Geschichte. Und zunächst nicht ganz so schlimm. Schließlich ist es auch wichtig, dass man sich selbst nicht ablehnt oder gar hasst. Problematisch wird’s erst, wenn man nicht mehr viel anderes sieht als dieses eigene Bild. Wer sich nur um sich selbst dreht, wird für andere ungenießbar. Wenn viele das tun, leidet das gesamte Miteinander in einer Gesellschaft. Der schöne Narziss will von anderen nichts wissen. Er versteht aber auch, dass er sich auf Dauer nicht nur in sich selbst verlieben kann. Und an diesem Zwiespalt stirbt er.

So sollte es keinem ergehen. Dass sich jemand ausschließlich und so sehr um sich selbst dreht, dass ihm am Ende nur die Flucht in den Tod bleibt. Gerade der christliche Glaube will das Gegenteil. Sein Hauptgebot lautet: Gott zu lieben, und den Nächsten - wie sich selbst. Da taucht die Liebe zur eigenen Person ausdrücklich auf. Weil die fürs Überleben wichtig ist, weil sie die Voraussetzung ist, um andere lieben zu können. Aber die Selbst-Liebe ist eben kein Selbst-Zweck. Sie bleibt immer bezogen auf andere Menschen. Zugegeben: Das ist eine heikle Konstruktion. Aber wie meistens kommt es eben darauf an, die rechte Balance zu finden. Sich selbst nicht zu vergessenen, weil man immer nur für andere da ist. Aber sich selbst auch nicht zum Maß aller Dinge zu machen und andere dabei vor den Kopf zu stoßen.

Nun behaupten manche Soziologen und Psychologen, wir würden im Zeitalter der Narzissten leben. Die Selbstverliebtheit sei zum Markenzeichen unserer Zeit geworden. Daran kranke viel; das sei die Ursache für die großen Probleme, mit denen wir uns auseinanderzusetzen haben. Wirtschaftsbosse, die vor allem an sich denken und die Bedürfnisse ihrer Arbeiter und Angestellten ignorieren. Politiker, denen es in erster Linie ums eigene Ansehen geht und nicht ums Gemeinwohl. Eltern, die ihren Nachkommen den eigenen Willen so aufzwingen, dass die Kinder unter der Last der übermäßigen Erwartungen zusammenbrechen.  Das ist alles nicht neu. Aber mir scheint, das Maß hat sich erhöht? Es sind einfach zu viel Narzissten heutzutage.

Das Phänomen ist alt. Was dabei passiert, ist offenbar tief im menschlichen Wesen verankert. So tief, dass es auch vor denen nicht Halt macht, die doch auf ihre Fahne geschrieben haben, selbstlos zu sein. Jedenfalls ertappt Jesus seine Jünger dabei, wie sie miteinander darüber sprechen, wer unter ihnen der Größte sei[1].

Was er ihnen darauf antwortet und was wir gegen zu großen Narzissmus tun können, davon spreche ich gleich, nach der Musik.

Die größte Schwäche des Menschen ist offenbar: Er denkt zuerst und zu viel an sich selbst. Nicht an den anderen, mit dem er lebt. Schon gar nicht an den Fremden, der ihm vor die Nase gesetzt wird. Nicht immer ist das gleich rücksichtsloser Egoismus, wenn wir an uns selbst denken. Aber wir sollten wissen, was da geschieht. Offenbar ist es tief in unserem Wesen verankert: gewinnen zu wollen, anderen überlegen zu sein; besser, schneller, größer als die oder der andere.

In der Bibel kann man an vielen Stellen nachlesen: Jesus hat das gewusst. Dass Gott den Menschen zwar auch so geschaffen hat, so in Sorge um sich und auf sich selbst bezogen. Weil es das auch braucht um zu überleben. Er kannte den Mechanismus, der dabei in Gang kommt. Und er hat versucht, dem etwas entgegenzusetzen. Womöglich ist das sogar der entscheidende Punkt, wenn er von der Nächstenliebe spricht, von Frieden und Gerechtigkeit. Weil mehr im Menschen schlummert. Auch die Liebe zum anderen, die an den eigenen Interessen nicht Halt macht, die größer ist als alles Streben nach Gewinn und Erfolg und Größe.

Aber wie über diesen Schatten springen? Seinen Jüngern sagt Jesus, als sie um den ersten Rang streiten: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein[2]. Jesus ahnt: Das könnte zu theoretisch sein. Keiner will der Letzte ein. Es steht zu befürchten, dass man seinen Vorschlag ablehnen, zumindest aber ignorieren wird. Als sprechendes Beispiel, wie die Jünger das am besten konkret anstellen, wählt er deshalb eines der dabeistehenden Kinder. Das stellt er in die Mitte.

Oft genug hören wir: Kinder sind unser größter Schatz, unsere Zukunft. In Wahrheit sind Kinder oft die Letzten, weil man sie vergisst. Sie haben keine starke Lobby. Sie können keine Erfolge vorweisen. Sie kosten Geld und verdienen keines. Aus der Corona-Pandemie könnten sie als die großen Verlierer hervorgehen. So passiert es immer wieder, obwohl wir Kinder lieben.

Ich kann mir gut vorstellen, dass Jesus mit seiner kleinen Aktion etwas in den Jüngern ausgelöst hat. Wer unmittelbar vor der Nase hat, was klein und schwach ist, spielt sich nicht so leicht auf. Ein Kind erinnert uns daran, wie bedürftig wir selbst sind. Und wie wenig es nützt, nach Gewinn und Größe zu streben. Spätestens am Ende unseres Lebens werden wir wieder dastehen wie ein Kind. Angewiesen auf die Liebe anderer. Bis dahin gelingt es uns hoffentlich, unseren Narzissmus in Schach zu halten. Ein Blick auf Kinder zu gegebener Zeit könnte dabei helfen.

 

[1] cf. Markus 9,34

[2] Markus 9,35

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33931
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