SWR2 Wort zum Tag

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20SEP2021
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Nein, nicht so schön! Da stehe ich auf dem Bahnsteig. Inmitten dicht gedrängter Menschenmassen. Die meisten wollen dem kommenden Bahnstreik entkommen. Fast alle sind mit einem Koffer unterwegs. Plötzlich die Durchsage: „Umgekehrte Wagenreihung!“ Wer ganz vorne steht, muss ans Ende des Gleises. Und umgekehrt. Aus der Ferne sehe ich schon den Zug heranrollen. Auf dem Bahnsteig geht‘s drunter und drüber. Unzählige Menschen drängeln und schubsen sich in beide Richtungen. Die vom Anfang ans Ende. Und umgekehrt.

Und noch am Gleis kommt mir dieser Satz aus der Bibel in den Sinn: „Erste werden Letzte. Und Letzte werden Erste sein.“ (Matthäus 20,16) Gottes neue Welt, in der ziemlich viel auf den Kopf gestellt wird, was bisher unsere Realität bestimmt. Diese totale Umkehrung der Verhältnisse ist in der Bibel immer wieder Thema. Bei Maria etwa, wenn sie singt: „Gott stürzt die Gewaltigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Den Hungrigen lässt er seine Gaben zugehen. Und die Reichen gehen leer aus.“ (Lukas 1,51+52)

Bei dem, was ich hier am Gleis erlebe, geht’s nicht ganz so himmlisch zu. Aber mit einem Mal geht mir auf: Diese Umkehrung von ganz vorne nach ganz hinten, auch die von oben nach unten – ganz so sanft und geräuschlos kann die auch nicht vonstatten gehen. Der Weg in diese neue Welt, in der Gottes Maßstäbe die unseren ersetzen, der verlangt uns schon Einiges ab. Da müssen vertraute Bilder in unseren Köpfen ersetzt werden. Da müssen Menschen gewonnen und überzeugt werden. Und so manche Machthaber räumen sicher nur mit Druck ihre Throne.

Von heute auf morgen wird das sicher nicht gehen. Oder gar in wenigen Minuten wie am Gleis. Aber womöglich geschieht das alles gar nicht erst in der Zukunft. Sondern hat längst schon angefangen. In Beteiligungsprozessen, die danach fragen, wie bisher Benachteiligte besser in das gesellschaftliche Leben einbezogen werden können. Jüngere oder Ältere. Menschen mit Einschränkungen. Vielleicht fängt dieser große Wechsel der Maßstäbe auch da schon an, wo ich mich schützend vor einen anderen Menschen stelle. Wo ich den Mund aufmache, wenn jemand Unrecht geschieht. Dass ich mitmachen kann in diesem großen Prozess der Veränderung und dabei mithelfen, Gottes neuen Maßstäben Raum zu geben in unserer Welt, das fasziniert mich schon.

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