SWR2 Wort zum Tag

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08SEP2021
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Ich kann mich noch ganz genau erinnern: Ich bin von der Schule nach Haus gekommen und in die Küche gestürmt. Stolz wie Oskar habe ich meiner Mutter zugerufen: „Ich hab heute meinen ersten Buchstaben gelernt! Ich kann jetzt das kleine i schreiben!“ Endlich war aus den wochenlangen Schreibübungen mit Schnörkeln, Haken, Auf- und Abschwüngen etwas Sinnvolles geworden: ein Buchstabe! Der erste Schritt in ein geheimnisvolles Reich voller Zeichen, das Tor in eine aufregende neue Welt. Warum ich diesen Moment so genau erinnere? Nun, weil ich den Eindruck hatte, dass meine Mutter ihn gar nicht mit ausreichender Begeisterung gewürdigt, sondern eher gelassen hingenommen hat: War doch klar, dass die Tochter in der ersten Klasse lesen und schreiben lernen würde.

Aber so klar ist das gar nicht. Heute ist der Weltalphabetisierungstag. Er will darauf aufmerksam machen, dass es weltweit ungefähr 860 Millionen Erwachsene gibt, die nicht richtig lesen und schreiben können, zwei Drittel davon sind Frauen! Bei uns in Deutschland gelten auch über sechs Millionen Menschen als gering literalisiert. Als ich zum Unterrichten von der Regelgrundschule an ein sonderpädagogisches Bildungszentrum gewechselt habe, ist mir klar geworden, wie kostbar diese Fähigkeiten sind. Da hatte ich nämlich ein Arbeitsblatt für die dritte Klasse meiner Meinung nach stark vereinfacht, aber die Klassenlehrerin hat nur bedauernd den Kopf geschüttelt: Ein Großteil der Schüler*innen könne gar nicht lesen. Ich habe es dort ganz neu lernen müssen, mich ohne Schrift zu verständigen. Was es aber wirklich heißt, in einer Welt voller Texte, Wörter und Zeichen gar nichts lesen zu können, das kann ich wohl immer noch nicht wirklich nachvollziehen.

 „Ich bin das A und das O“, sagt Jesus. Zwei Buchstaben, die für Anfang und Ende stehen, weil sie den ersten und letzten Buchstaben des griechischen Alphabets bezeichnen. Ein Satz aus einer Buchreligion, in der das Lesen der Heiligen Schrift wesentlich zum Glaubensvollzug gehört. Dasselbe gilt für das Judentum und den Islam. A und O sind aber im Gegensatz zum kleinen i, auf das ich einst so stolz gewesen bin, auch die Laute anfänglichen Staunens, die jedem Menschen unabhängig von seinen sonstigen Fähigkeiten zu eigen sind. Trotzdem: Ich wünsche mir, dass jeder Mensch nicht nur staunen, sondern auch lesen und schreiben kann, ganz gleich, ob dieser Mensch nun in Afghanistan aufwächst oder in Aglasterhausen im Oman oder in Ohmden. A und O für alle! Und alles dazwischen auch!

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