SWR2 Wort zum Tag

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23AUG2021
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Meine kleine Enkeltochter kann noch nicht laufen, mit dem Krabbeln fängt sie langsam an. Doch sie schafft es ausgezeichnet, ihre Umgebung in Bewegung zu bringen. Wenn sie schreit, wird es so laut, dass die Erwachsenen alles tun, um das kleine brüllende Bündel wieder zu beruhigen. Die Natur, oder christlich gesprochen: die Schöpfung, hat sich das schon wunderbar überlegt, dass kleine Menschenkinder mit ihrem Gebrüll ihren Eltern und Großeltern in den Ohren liegen. So können sie auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen und werden – jedenfalls wenn alles so läuft wie es laufen soll – gefüttert, gewickelt, beruhigt und liebkost.

In der Bibel steht im 8. Psalm der sehr treffende Satz, dass Gott dem Geschrei von Säuglingen eine Macht verliehen hat. Mein früherer Professor für Altes Testament, ein eigentlich sehr freundlicher Mensch, hielt diesen Satz für einen Redaktionsfehler. Aber der Mann hatte auch keine Kinder.

So wie Kinder nach ihren Eltern schreien, dürfen Menschen im Gebet auch nach Gott schreien. Das ist jedenfalls die Überzeugung des Apostels Paulus. Und manchmal ist das Leben ja auch so schrecklich, dass man nur noch schreien mag und kann. Mir tut es dann gut, nicht nur in die Welt zu brüllen, sondern mir ein Gegenüber vorzustellen, das mich hört. Und darauf zu vertrauen, dass Gott mein Schreien ernst nimmt. So wie meine kleine Enkelin erlebt, dass ihr Schreien gehört wird und gleichzeitig lernt, dass sie Menschen hat, denen sie vertrauen kann und bei denen sie Geborgenheit findet.

Als Seelsorgerin begegnen mir manchmal Menschen, die sehr darunter leiden, dass sie in Zeiten der Not nicht beten konnten oder können. Einige von ihnen sind ganz fromme Menschen. Aber die Not lehrt sie nicht beten, sondern es ist, als ob ihr Kummer den Zugang zum Trost des Gebets verschließen würde. Der Apostel Paulus kannte diese Situation wohl auch. Es rührt mich an, dass Paulus schreibt, dass – wenn wir nicht beten können – Gott selbst stellvertretend für uns betet und sein Heiliger Geist in uns seufzt. Wir Menschen müssen keine Worte finden, um unserem Gott unser Leben ans Herz zu legen. Manchmal bleibt nur ein Seufzen. Wenn einem das Elend der Welt zu Herzen geht. Aber auch, wenn das Leben überwältigend schön ist, zum Seufzen schön. Etwa, wenn einen ein kleines Kind anlächelt und man einfach dahinschmilzt.

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