Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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25AUG2021
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Während meiner Berufstätigkeit hatte ich auch mit Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche zu tun. Mich hat die Begegnung mit Menschen erschüttert, die als Kinder missbraucht wurden, und das hat meinen Blick auf die Institution Kirche verändert. Das Leid der Opfer und die Schuld der Täter und Verantwortlichen wiegen schwer. Sie sind nicht zu relativieren.

Zugleich ist das nicht die ganze kirchliche Wirklichkeit. Ich bin Jahrgang 1953. Meine kirchliche und religiöse Identität habe ich in den 60er und 70er Jahren in Mainz und Freiburg entwickelt. Dabei bin ich als Kind und Jugendlicher glaubwürdigen, authentischen und menschenfreundlichen Priestern begegnet. Durch ihr persönliches Beispiel und gelebtes Christentum haben sie mir einen lebenszugewandten, befreienden christlichen Glauben ermöglicht. Selbst bei der vielgescholtenen Beichtvorbereitung standen Befreiung und Vergebung derart im Vordergrund, dass kein ängstliches Gewissen entstehen konnte.

Ich bin in Mainz in Vierteln aufgewachsen, in denen damals kein Sportverein, keine Jugendorganisation Interesse an uns jungen Menschen zeigte. Nur die Pfarrer der katholischen Gemeinden investierten in uns Zeit, Sympathie und Geld und stellten uns Räume zur Verfügung. Wir konnten uns selbst erproben, Fehler machen und wieder Neues versuchen. Nach einem völlig misslungenen Projekt gestand ich einem der Pfarrer einmal unser Scheitern. Als Reaktion fragte er: Was wollt Ihr denn Neues probieren? Auf meinen Einwand, das werde die Gemeinde vermutlich wieder Geld kosten, antwortete er: Für Gutes ist immer Geld da.
Nie trat mir ein Priester zu nahe. Der körperliche Kontakt beschränkte sich aufs Händeschütteln bei der Begrüßung.

All das relativiert nicht das Leid der missbrauchten und misshandelten Menschen und entschuldigt nichts. Meine eigene kirchliche Erfahrung als Kind und Jugendlicher gehört jedoch zum Wertvollsten, das mir auf den Lebensweg mitgegeben wurde. Die Erinnerung daran ist für mich keine schwärmerische Nostalgie, sondern die bleibende Erfahrung, wie Kirche auch sein kann: Befreiend, zugewandt und über die eigenen Grenzen hinausführend. BeideErfahrungen gehören zur Wirklichkeit der katholischen Kirche. Erst damit wird das Bild vollständig.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33738
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