SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Auf diesen Besuch habe ich nun gar keine Lust. Bei der alten Dame ein paar Straßen weiter. Aber sie hat um einen Besuch gebeten. Ich hätte eigentlich jede Menge Anderes zu tun. Aber ich gebe meinem Herzen einen Stoß und klingele an der Tür.

Wie ich es erwartet habe. Alte Frau mit altem Gesicht. Langweilige Tapete im Flur, abgenutzte Sitzgarnitur im Wohnzimmer, es riecht ganz leicht nach Kohl. Im Geiste seufze ich tief und setze ein Lächeln auf. Heimlich schaue ich auf die Uhr. Maximal eine Stunde, nehme ich mir vor. Dann bin ich weg.

Jetzt bin ich erst einmal da. Das Gespräch schleppt sich dahin. Über die Gehhilfe im Flur, über das neue Hörgerät und den letzten Arztbesuch. Mit halbem Ohr höre ich zu, mit halbem Herzen folge ich von Krankheit zu Krankheit. „Ich hole dann mal den Tee“, sagt die alte Dame. Erleichtert nicke ich.

Während sie in der Küche ist, lasse ich meinen Blick schweifen. Ein Bild auf der Kommode fesselt mich. Zwei junge Mädchen in Gehrock und Zylinder. „Fasching 1932“, höre ich hinter mir. Erschrocken wende ich den Kopf und sehe die alte Dame in der Tür. Sie lächelt verklärt.

„Ich war ein ganz schöner Feger“, sagt sie, während sie sich setzt. „In meiner Jugend“, fügt sie hinzu. „Sie?“, rutscht es mir heraus. Aber sie schenkt in aller Ruhe den Tee ein, und ihr Lächeln ist nun richtig breit und verwegen. Na so etwas. In diesem Moment sieht sie richtig jung aus.

Ich bleibe bei der alten Dame, bis es dämmert. Sie weiß immer neue Geschichten zu erzählen. Von modernen Tänzen und kurzen Haaren, von schneidigen Kerlen und wilden Gedanken. Mittlerweile sitze ich mit großen Ohren in meinem Sessel und lausche von ganzem Herzen. Und wundere mich immer wieder, wie lebendig dieses alte Gesicht ist.

Ein paar Wochen später stirbt die alte Dame. Von einem Tag auf den anderen. Der Sohn sagt: Sie war halt eine alte, kranke Frau. Und ich denke: Nein, sie war ein ganz schöner Feger. Und muß lächeln.
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