SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

01AUG2021
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„Streitet euch nicht!“, sagte meine Oma immer. Was muss sie oft gelitten haben! Mein Opa und ich, wir waren richtige Streithammel. Wir haben einander sehr geliebt. Aber heftig diskutiert! Die Atomkraft. Und erst die Atomraketen! Von Windenergie und von der Friedensbewegung hielt mein Opa wenig. Freundlich ausgedrückt. Er hat Helmut Schmidt verehrt, den Bundeskanzler damals. Ich war mehr für die ganz neue Partei, die sich gerade gegründet hatte: die GRÜNEN.

Rund 40 Jahre ist das jetzt her. Meine Großeltern leben schon lange nicht mehr. Doch mein Opa und ich: Wir könnten heute nahtlos anknüpfen an unsere Streitgespräche von damals. So viel hat sich eigentlich nicht geändert. Heute streite ich mich mit anderen über dieselben Themen. Und manchmal sagen dann andere, so wie damals meine Oma: „Streitet euch nicht!“

Für die, die dabeisitzen, ist das manchmal wirklich sehr anstrengend: Da kriegen die beiden sich schon wieder in die Wolle! Immer über dieselben Themen!

Auf der anderen Seite: Manchmal braucht es den Streit. Sollen alle immer nur schweigen und ihre Meinung für sich behalten? Aber können verschiedene Meinungen immer nur friedlich nebeneinander herlaufen? Meinungen vielleicht noch. Aber irgendwann wird es ja konkret. Dann geht es zum Beispiel um die Frage, wo die Windräder hinkommen. Ob wir überhaupt welche brauchen. Da, wo ich lebe, im Hunsrück: da stehen schon eine ganze Menge davon. Seit Jahren. Woanders gar keine. Aber Strom wird überall gebraucht. Windräder machen auch Probleme. Aber sie sind gut fürs Klima. Wie soll man da eine Lösung finden, wenn man nicht darüber streitet? Ist der Streit nicht sogar nötig? Aber wie streitet man richtig?

Mein Opa und ich, wir haben ja nicht nur gestritten. Wir haben viele großartige Dinge zusammen gemacht. Ich erinnere mich gerne an ihn. Auch an den Streit übrigens. Ich fand das toll, wie er sich mit mir ins Gefecht gestürzt hat. Ich hab mich ernst genommen gefühlt. Ich wusste immer: das ist mein Opa. Der ist so stolz auf seinen Enkel. Auch wenn der keine Ahnung hat, wie man ein Industrieland mit Energie versorgt. Und vor Angriffen schützt. Fragen übrigens, die immer noch nicht geklärt sind. Und auf die es auch nicht nur eine Antwort gibt. Da brauchen wir noch viele Diskussionen. Und – ja: auch Streit.

Streit gibt es aber doch erst, wenn Menschen etwas gemeinsam haben. Wenn mir jemand egal ist, warum und worüber sollte ich mit dem streiten? Ich streite mich mit Menschen, mit denen ich zusammen lebe. In der Familie. Oder im Ort, im Land. Wir sind aber verschieden. Wir haben verschiedene Interessen und Erfahrungen. Da geht es oft nicht ohne Streit.

Es gibt natürlich Menschen, die legen sich einfach mit jedem an. Die haben vielleicht eigene Probleme. Aber der Streit, den ich jetzt meine, bei dem geht es um gemeinsame Probleme. Und ein gemeinsames Ziel. Wie jetzt bei dem Streit um Katastrophenschutz. Wir wollen alle, dass so etwas Schreckliches wie die Hochwasserkatastrophe nicht passiert. Und wenn die Katastrophe nicht mehr vermieden werden kann, dann sollen möglichst keine Menschen dabei ums Leben kommen. Dieses Ziel liegt hinter dem Streit. Da wollen wir gemeinsam hin. Und da werden wir hinkommen – wie heftig wir auch diskutiert haben.

Damit das funktioniert, können Regeln helfen. Wie bei einem Wettkampf. Ein Streit ist doch eigentlich auch nichts anderes als ein Wettkampf. Beim Fußball gibt’s auch Regeln – zum Beispiel, was ein Foul ist. Ein typisches Foul im Streit sind Sätze, die fangen so an: „Du hast aber …!“ – „Und du machst immer …!“ Am besten noch mit ausgestrecktem Zeigefinger! Da wird der andere ganz rasch zum Feind. Dabei ist er doch eigentlich ein Gesprächspartner!

Fairplay im Streit kann man lernen. Das ist nicht leicht. Und es braucht viel Übung. Aber das ist beim Sport ja nicht anders.

Das Ziel hinter dem Streit, das Ziel, zu dem diese Streitregeln passen: das würde ich einfach „Frieden“ nennen. Aber was ist Frieden?

Auf Hebräisch, der ersten Sprache der Bibel – da heißt Frieden „Schalom“. Aber Schalom, das ist noch viel mehr als Frieden. Das heißt: es ist heil, es ist ganz, alles ist gut. Schalom wäre eigentlich der Himmel auf Erden. Keine Wünsche bleiben offen. Alle Streitfragen sind beantwortet. Da kommen wir wohl nie ganz hin. Aber dahin können wir unterwegs sein. Und der Weg, der muss zu dem Ziel passen.

Also kein Streit? Hatte meine Oma doch recht? Nun: wir müssen aufpassen auf unseren Streit. Dass es ein Streit um die richtige Lösung ist. Ein Streit um den besseren Weg. Und ein Streit, den wir einfach brauchen, damit alle zu Wort kommen. Schweigen um des lieben Friedens willen: das ist keine Lösung. Dann wird irgendwo entschieden, aber es ist bestimmt nicht alles berücksichtigt worden. Ohne Streit kommen wir meist nicht voran. Wo verschiedene Menschen zusammenleben. Mit verschiedenen Bedürfnissen, verschiedenen Erfahrungen.

„Streitet euch nicht“? Nein: Streitet euch. Aber richtig. Nämlich friedlich.
Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag!

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