SWR2 Wort zum Tag

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14AUG2021
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„Vieles ist noch so ungewohnt“, sagt mir neulich ein Freund bei der Begrüßung. Früher haben wir uns, wenn wir uns länger nicht gesehen hatten, einfach immer umarmt. Dürfen wir uns diese Freiheit jetzt wieder nehmen? Oder lieber noch nicht?

Vieles fühlt sich gerade an, als müsse man es erst wieder neu lernen. Und ausprobieren. Wie ein Gang über eine Eisfläche im Winter, bei der man nicht weiß, ob sie hält. Das Zusammensitzen mit Freunden im Freien. Der sorglose Plausch an der Straßenecke.

Es ist ein Lebensgefühl, als hätte man nach Monaten den lästigen Gipsverband abgelegt. Und versuche nun, die ersten Schritte ohne zu tun. Alles noch ganz schön ungewohnt!
Ja, wirklich! Vieles erlebe ich in diesen Tagen wie zum ersten Mal.

Aber - das ist grundsätzlich ja auch etwas Schönes! Es ist so ein Gefühl, wie ich es habe, wenn ich morgens sehr früh aufgestanden bin. Wenn sich das Dunkel der Nacht ganz allmählich auflöst und der Morgen dämmert.  Der Straßenverkehr ruht noch, aber die ersten Vögel beginnen schon zu singen ...

Dann spüre ich den Zauber eines von Planung und Zwecken noch unbe-fleckten Tages. An dem alles möglich zu sein scheint. Einen Widerschein sozusagen des ersten Schöpfungsmorgens, wo die Welt noch ganz frisch und unbenutzt ist.

Diesen Kontrast zu erleben zu dem, was später dann alles kommen wird, finde ich schön. Und hilfreich. Weil er mir Abstand vermittelt zu den vielen Aufgaben und Pflichten, die ich tagsüber zu erledigen und zu tun habe.

Dieser Abstand erlaubt mir auch jetzt, zu unterscheiden. Und zu fragen: soll meine neue gewonnene Freiheit einfach nur darin bestehen, zurückzukehren zur sogenannten Normalität vor der Pandemie? Will ich wei-termachen wie bisher? Oder bin ich so frei, manches zu lassen, was sich nicht als lebensdienlich erwiesen hat?

Ich überlege mir, welche Fernreise ich wirklich unbedingt machen will. Dass auch die Entdeckung der Nähe und der Langsamkeit ihre Reize hat. Und dass ich durchaus etwas tun kann gegen die ständige Angst, ich könnte in diesem Leben etwas verpassen.

Dabei hilft ein Maßstab, den Paulus gegeben hat: „Prüfet alles, und das Gute behaltet!“ Das halte ich auch in der jetzigen Situation und im Blick auf die Zukunft für einen guten Rat. Gut, wenn auch manchmal anstrengend!
Aber Freiheit bedeutet eben auch: die mühsame Kunst des Prüfens und Unterscheidens zu üben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33616
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