SWR2 Wort zum Tag

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24JUL2021
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Beten, das heißt „Danke sagen“. Zumindest habe ich das so als kleines Kind gelernt. Wenn meine Eltern mich abends ins Bett gebracht haben, durfte ich überlegen, wofür ich dankbar bin. „Danke lieber Gott, dass ich heute den ganzen Tag bei Oma Süßigkeiten essen durfte.“ Oder „Danke, dass wir heute ins Schwimmbad gefahren sind.“ Ein schönes Ritual, an das ich mich gerne erinnere.

Erst als ich älter wurde habe ich gemerkt, dass mir das Dankgebet alleine nicht reicht. Denn ich bin nicht immer dankbar.

Wenn ein Freund eine schwere Krankheitsdiagnose erhält oder ich die Nachrichten angesehen habe und wieder so ein mulmiges Gefühl in mir bleibt, dann ist mir nicht nach „Danke sagen“ zumute.

Im Buch der Psalmen, in der Bibel, habe ich entdeckt, dass Gebete auch anders funktionieren können. Denn dort gibt es neben den Gebeten, die Gott loben und ihm danken, auch die Gebete, in denen Gott angeklagt wird. Dort zeigen sich die Betenden wütend, traurig und verzweifelt. Also genau die Emotionen, die ich mir beim Beten vor Gott oft nicht erlaube. In den Psalmen werden diese Gefühle ehrlich formuliert, oft mit starken Bildern. Da heißt es zum Beispiel in Psalm 77: „Hat Gott vergessen, dass er gnädig ist? Oder hat er im Zorn sein Erbarmen verschlossen?“

Die Texte sind zwar uralt, aber sie sprechen mich an. In den Gebeten wird nichts schöngeredet oder verschleiert und gerade das empfinde ich als aufbauend.

Wenn ich verzweifelt bin oder einfach nicht weiterweiß, nehme ich das Buch der Psalmen in die Hand und fange an zu lesen. Und im besten Fall entdecke ich einzelne Verse, in denen ich mich wiederfinde und die ich dann ehrlich mitbeten kann. Und manchmal scheint kein Vers zu meiner Lage zu passen. Ich lese dann trotzdem weiter und versuche, die Texte als Brücke zu nehmen, um mir meiner eigenen Gefühle klar zu werden. Wenn ich in der Bibel Verse lese wie „Warum, HERR, verstößt du mich, verbirgst vor mir dein Angesicht?“  dann ermutigt mich das, Gott auch heftige Dinge vorzuwerfen. „Gott, mein Bruder ist so krank. Wo bist du denn jetzt? Mach was!“

Mir fällt das nicht leicht, weil ich gerade wenn ich wütend bin, am liebsten alles sein lasse. Da nochmal extra auf Gott zuzugehen, dazu muss ich mich manchmal fast zwingen. Aber ich bin sicher, dass es mich in meiner Gottesbeziehung stärkt, wenn ich genau das tue. Ich muss nichts ausklammern, ich kann ehrlich sein, wenn ich bete. Ich kann auf Gott wütend sein, an ihm zweifeln. Eine gute Beziehung hält das aus.

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