SWR2 Wort zum Tag

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28JUL2021
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Sie ist eine zarte Schönheit, zum ersten Mal habe ich sie vor einem Jahr gesehen. Sie saß in der Sonne an der Mauer in meinem Garten. Bezaubert habe ich gleich ein Foto geschossen und an eine befreundete Biologin gesendet. „Ist das nicht ein wunderschönes Tier“, kam postwendend die Antwort. „Eine Ameisenjungfer, die Imago des Ameisenlöwen. Ganz schön selten – du hast Glück gehabt!“ Aha! Dieses wie eine Libelle anmutende Geschöpf ist also das geschlechtsreife Insekt, das aus der letzten Verpuppung des Ameisenlöwen geschlüpft ist. Offensichtlich bietet mein kleines Gärtlein nicht nur mir Erholung, sondern ist auch Heimat seltener Insekten. Mein Garten hat mich das Staunen gelehrt über die Wunder der Natur. Oder christlich gesprochen: die Wunder der Schöpfung. Es ist doch zum Staunen, dass aus einem kleinen, dicken Insekt, nämlich dem Ameisenlöwen, das sich im Sand vergräbt und Ameisen fängt, nach einer Zeit der Verpuppung ein Wesen entsteht, das optisch mit der ersten Fassung fast gar nichts gemein hat. Die Ameisenjungfer eben, zart und filigran wie eine Libelle. Ich bin fast beschämt darüber, wie eng mein Horizont lange gewesen ist. Um mich herum existiert Leben, und ich habe mein menschliches Leben so ins Zentrum gesetzt.

Der Arzt und Theologe Albert Schweitzer hat das vor hundert Jahren schon verstanden und gesagt: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Albert Schweitzer hatte begriffen, dass eine nur auf Menschen bezogene Ethik unvollständig ist. Viel mehr Energie entwickelt eine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Albert Schweitzer setzte sich dafür ein, dass Menschen sich mit dem Schicksal anderer Geschöpfe in Beziehung setzen und entschlossen sein mögen, ihnen – auch in ihrer Not – beizustehen, soweit sie es vermögen.

Wie schade, dass diese zentralen Gedanken des späteren Friedens-Nobelpreisträgers zwar gewürdigt, aber nicht umgesetzt wurden. Es waren junge Menschen, die sich noch vor dem Lockdown für ein Umdenken und den Klima- und Artenschutz eingesetzt haben. Und ich wünsche mir, dass ihre Energie zu einem Umdenken beiträgt. Damit meine kleine Enkelin eine Chance bekommt, eines Tages auch eine Ameisenjungfer kennenzulernen.

Ich habe meine zarte Schönheit in diesem Jahr übrigens wiedergesehen. Oder besser: Ihre Tochter. Sie saß an der Wand in meinem Schlafzimmer und ich habe sie in einem zarten Seidentuch ganz vorsichtig ins Freie befördert, wo sie libellengleich davonschwebte. Es gibt Wunder. Man kann sie sehen.

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