SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

27JUL2021
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Jetzt habe ich in einem Gottesdienst wieder singen dürfen. Zwar mit Maske, aber doch: singen! Nicht nur ich habe gemerkt, wie gut das getan hat. Es war wie Balsam für unsere Seelen. Wie sehr das gefehlt hat in den Gottesdiensten, aber auch in den vielen Chören, die über ein Jahr lang nicht gemeinsam singen konnten.

Im Gottesdienst erklangen Lieder eines Mannes, der Erfahrungen mit Ausnahmezuständen hatte. Paul Gerhardt, einer der bedeutendsten Dichter des Barock. Dreißig Jahres seines Lebens verbringt er im Krieg, erlebt die Welt im Chaos, den Zusammenbruch vertrauter Ordnungen, Pest und Wetterkatastrophen. Das ist alles 400 Jahre her, und doch kommen uns die Verse Paul Gerhardts so nah, sind seine Lieder, die er in der frühen Neuzeit gedichtet hat, so dicht an uns krisengebeutelten Menschen in der Postmoderne. Der Kunst gelingt es, Jahrhunderte zu überspringen.

„Du meine Seele singe!“ hat Paul Gerhard 1653 gedichtet. Und ich habe in diesem Gottesdienst erlebt, wie sich meine Seele mit den Tönen der dazugehörigen Melodie des Komponisten Johann Georg Ebeling aufgeschwungen hat, vom tiefen „b“ bis zum hohen „d“. Mit Gerhardts Versen vertraue ich mich dem Leben an, erlese das höchste Gut, liebe den schönsten Schatz und entdecke starke Kräfte und treue Sinne. Durch die Jahrhunderte erreichen mich Worte und Musik wie ein Geschenk.

Und auch die dunklen Erfahrungen haben ihren Platz. Hungersnot, Trauer und Gewalt kommen vor. Aber sie haben nicht das letzte Wort, und so war unser Gesang im Gottesdienst auch ein trotziger Widerspruch gegen die scheinbare Übermacht des Bösen.

Leicht ist das Leben von Paul Gerhardt wahrlich nicht gewesen, und dennoch haben viele seiner Lieder eine Leichtigkeit, die ich wie einen seelsorglichen Zuspruch empfinde. Sein Lied „Geh aus mein Herz und suche Freud“ haben wir im Gottesdienst gesungen, und mir schien, als ob wir mit diesem Lied die Welt außerhalb unserer engen Mauern entdecken konnten, als ob dieser Mensch des Barock, der vor fast einem halben Jahrtausend gelebt hat, uns mit seinen Liedern Mut macht, das Leben und die Schöpfung zu feiern. „Lass mich bis zur letzten Reis an Leib und Seele grünen.“ Ich habe – singend – gespürt, wie mich das an Leib und Seele erfrischt hat. „Ich singe mit, wenn alles singt, und lasse, was dem Höchsten klingt, aus meinem Herzen rinnen.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33580
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