SWR4 Abendgedanken

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23JUL2021
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Wann endet eigentlich die Nacht? Und wann beginnt der Tag?

Auf den ersten Blick scheint die Antwort einfach: Es ist Tag, wenn es hell wird, wenn die Sonne aufgeht. Und dann ist die Nacht zu ende.

Ich frage mich das, weil ich darüber staune, dass jeder Mensch anders tickt. Jeder hat seinen eigenen Tag-Nacht-Rhythmus. Mein Körper beispielsweise verlangt immer noch nach Schlaf, wenn es längst hell ist. Für meine Freundin hingegen endet die Nacht jeden Morgen kurz vor fünf Uhr – dann wacht sie auf, egal ob im Sommer oder Winter. Das macht eine eindeutige Antwort schwierig. Und noch etwas beschäftigt mich: Jeder hat seine ganz eigene Erfahrung mit der Nacht.

Eine Bekannte erzählt mir zum Beispiel von den Nächten mit ihrem kranken Mann, da kehren sich die Zeiten um. Sie sagt, dass der Übergang von der Nacht in den Tag erst geschafft ist, wenn er einschläft. Solange es dunkel ist, ist ihr Mann unruhig, spricht unentwegt und steht ständig auf. Erst gegen Morgen beginnt für ihn die Nacht.

Die jüdische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Nelly Sachs hat die Nacht zum zweiten Tag gemacht. Erst wenn der helle Tag vorbei ist, hat sie begonnen zu schreiben. Erst dann sind jene Bilder aus ihrem Inneren aufgetaucht, die sie brauchte, um zu erzählen. 

Bei Jesu Tod und Auferstehung überlagern und überschneiden sich Tag und Nacht gar: Als Jesus am Kreuz stirbt, verfinstert sich der Himmel, so steht es in der Bibel. Da beginnt die Nacht also mitten am Tag. Genau andersherum erzählen es die Zeilen in einem alten Osterlied: "Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages“. Die Nacht und die Dunkelheit enden mit der Auferstehung.

Das zeigt mir: Tag- und Nachtzeiten lassen sich nicht mit äußeren Merkmalen einfangen.

Eine jüdische Geschichte definiert das Ende der Nacht auf eine ganz andere und sehr schöne Weise: Der Rabbi, also der Lehrer, fragt seine Schüler: „Wie bestimmt man die Stunde, in der die Nacht endet und der Tag beginnt?“ Die Schüler denken zunächst an das, was sie sehen, an den Unterschied zwischen hell und dunkel. Ihr Lehrer aber hat eine andere Antwort. Der Rabbi sagt: „Es ist dann (Tag), wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blickst und deine Schwester oder deinen Bruder erkennst. Doch bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“

Diese Erklärung gefällt mir sehr gut. Denn sie macht deutlich: Das natürliche Licht ist nicht entscheidend. Sondern es ist das Licht der Nächstenliebe, das unsere Nacht erhellt und sie beenden kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33564
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