SWR4 Abendgedanken

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08JUL2021
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Schritt für Schritt kehren wir nach dem Corona-Lockdown wieder in den Alltag zurück. Und das macht mir auch Sorgen, denn ich habe an manchen Stellen den Eindruck, als ob wir nichts dazugelernt hätten. Ich weiß: Der Lockdown hat einige Menschen an die Grenzen des wirtschaftlichen Ruins gebracht und viele können heute nicht mehr weiter arbeiten wie vorher. Aber ich kenne auch Menschen, die dieser Stopp zur Ruhe gebracht hat und zum Nachdenken. Mir ist bewusster geworden, wie wichtig mir die Begegnungen mit Freunden sind, dass Sport und Kultur Lebensbereiche sind, die ich brauche, um psychisch gesund zu bleiben, und Gottesdienste, in denen ich mit anderen Menschen singe und bete.

Deshalb macht es mir Sorgen, wenn wir jetzt so tun, als ob es vor allem darum geht, wieder leistungsfähig zu sein. Besonders im schulischen Bereich, wo ich arbeite, finde ich das bedenklich wenn wir so tun, als ob es vor allem darum geht, was die Kinder und Jugendlichen nicht gelernt und nicht geleistet haben. Es gibt schon einige Konzepte, die den Kindern und Jugendlichen helfen sollen, den Unterrichtsstoff nachzuholen, den sie während der Lockdown-Zeit versäumt haben. Das ist zwar wichtig, aber es geht doch nicht nur um Unterrichtsstoff und Leistung. Und schon gar nicht für die Kinder und Jugendlichen, die sich entwickeln und ein Gefühl dafür bekommen sollen, was wichtig ist im Leben.

Ich denke an die vielen anderen Bedürfnisse, die in dieser Zeit zu kurz gekommen sind. Auch bei vielen Erwachsenen ist das weggefallen, was Schüler sonst in den Pausen und in der Freizeit erleben: Sie durften lange nicht gemeinsam an der frischen Luft spielen oder irgendwo zusammensitzen und miteinander über das sprechen, was sie gerade beschäftigt. Selbst dass sie sich aus Jux auf dem Arm nehmen, ärgern und so die Grenzen von Spaß und Ernst austesten, ist ausgefallen. Und sie haben keine direkten Konflikte erlebt und gelernt, wie man einen Streit löst. Sie haben sich gar nicht oder nur im kleinsten Kreis zum Geburtstag einladen können. Und die schönen Erlebnisse einer unbeschwerten Zeit haben sie nicht gehabt, von der man später als Erwachsener oft zehrt.

Hier sehe ich großen Nachholbedarf. Ich denke, wir müssten dafür Konzepte entwickeln, wie wir alle, besonders aber die Kinder und Jugendlichen diese Erfahrung nachholen können. Denn der Mensch ist mehr als das, was er leistet: Eine Person, die streiten, lachen, singen, beten und sich freuen kann. Gemeinsam mit anderen Menschen. Und dafür ist es jetzt Zeit.

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