SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

05JUL2021
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Der Geliebte sagt der Geliebten: „Schön bist Du, meine Freundin!“ So steht es im Hohelied Salomos im Alten Testament. Dort wird die erotische Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau beschrieben. „Du bist schön“, das will jeder gerne hören, das tut uns gut und richtet uns auf. Ich will das auch. Das jemand mich ansieht und dazu kommt, mich schön zu finden. Dabei ist Schönheit etwas sehr Relatives. Was heute schön ist, war vor Jahren noch viel zu dick oder zu dünn. Das wandelt sich. Und unter uns Menschen ist Schönheit Geschmackssache. Bei manchen Paaren, die ich sehe, kann ich nicht nachvollziehen, was sie an sich finden, bei anderen finde ich es offensichtlich. Aber das zeigt nicht nur, dass Schönheit Geschmackssache ist. Vermutlich liegt es daran, was einer sieht, wenn er einen anderen anschaut. Wir sehen nicht nur die äußere Schönheit, sondern wir nehmen auch die Ausstrahlung und die Persönlichkeit eines anderen Menschen wahr, wenn wir ihn oder sie sehen. Und wir finden das, was wir vom Wesen oder Charakter sehen, eben auch schön – oder nicht.

Als ich vor kurzem in einem Café gesessen bin, ist mir eine Frau aufgefallen, bei der mir das nochmals richtig klar wurde. Sie hatte offensichtlich viel dafür getan hat, dass sie schön wirkt. Vermutlich nicht nur mit Schminke, sondern auch mit Operationen, die das Gesicht straffen und die Lippen füllig wirken lassen. Ihr Gesicht war aber irgendwie unbeweglich und sie hat versucht, sich wie ein junges Mädchen zu bewegen. Aber es war deutlich, dass sie schon wesentlich älter ist. Auf mich hat das gewirkt, als ob sie viel dransetzt, eine junge schöne Fassade zu zeigen. Da ist mir klar geworden, dass hinter dieser Fassade ein Mensch stecken muss mit einer großen Sehnsucht: Ich will gesehen und schön gefunden werden. So bin ich selbst ja auch.

Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass das Äußere keine Rolle spielt für mich. Es ist stets das erste, was ich von einem anderen sehe. Aber auf den zweiten Blick kommt eben auch die Persönlichkeit und die Ausstrahlung zum Tragen.

Dabei finde ich einen Gedanken tröstlich: Viele Bibelforscher legen das „Schön bist Du, meine Freundin!“ aus dem Hohelied Salomos so aus, dass es nicht nur um eine Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau geht. Es könnte auch die Liebesgeschichte zwischen Jesus und unserer Seele andeuten. Unabhängig vom Schönheitsgeschmack irgendeiner Zeit zeigt er mir so, dass es sich lohnt, auf das Innere eines Menschen zu sehen. Wenn er Menschen getroffen hat, hat er diese Seite gesehen und ihnen gezeigt, dass er findet: „Schön bist Du!“

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