Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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03JUL2021
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Es ist ja nicht so, als würde ich – nur weil ich Theologin bin – die Bibel im Detail kennen. Da gibt es vieles, was ich nicht kenne. Als ich zuletzt etwas nachgeschlagen habe, bin ich über den folgenden Satz gestolpert:

„Es gibt kein Glück, es sei denn, der Mensch kann durch sein Tun Freude gewinnen.“ (Koh 3,22)

Das finde ich erstaunlich. Mit meinen Worten gesagt: „Mein Leben ist schön und bunt, wenn ich Freude habe, an dem, was ich mache.“

 

Ich habe mir den Text dann mal genauer angeschaut. Und tatsächlich vertritt der Weisheitslehrer Kohelet aus dem Alten Testament die Meinung: mein Leben wird nicht durch solche Klassiker wie Besitz, viel Geld, Ansehen oder ein langes Leben glücklich. Denn das alles ist vergänglich. Wichtig sind die kleinen oft unbeachteten Dinge, die das Leben im Hier und Jetzt bereichern.

Das klingt wie aus einem Lifestyle-Magazin.

Aber tatsächlich stelle ich fest, dass ich oft mit der Vergangenheit oder mit der Zukunft beschäftigt bin. Die Gegenwart fällt schnell unter den Tisch. Schade eigentlich. Klar, der gegenwärtige Augenblick ist immer nur kurz.

Und nicht alle meine Tätigkeiten sind vergnügungssteuerpflichtig. Aber ich versuche, schöne Momente in der Gegenwart zu genießen.

 

Dazu gehört: Mal zehn Minuten auf dem Bett liegen und dösen. Ein Highlight ist das Croissant, das ich in den Milchkaffee tunke. Und besonders gern stehe ich momentan nelkenblütenkauend vor meinem neu angelegten Beet mit weißen, roten und pinken Nelken und schaue dort den Bienen zu.

Um mich daran zu erinnern, mehr auf die Gegenwart zu achten, habe ich nun eines meiner Lieblingsgedichte von Rainer Maria Rilke auf dem Schreibtisch aufgestellt:

 

„Du musst das Leben nicht verstehen,

dann wird es werden wie ein Fest.

Und lass dir jeden Tag geschehen

so wie ein Kind im Weitergehen

von jedem Wehen

sich viele Blüten schenken lässt.

 

Sie aufzusammeln und zu sparen,

das kommt dem Kind nicht in den Sinn.

Es löst sie leise aus den Haaren,

drin sie so gern gefangen waren,

und hält den lieben jungen Jahren

nach neuen seine Hände hin.“

 

(Quelle: Rainer Maria Rilke, Du musst das Leben nicht verstehen, aus: Rilke für Gestreßte, ausgewählt von Vera Hauschild, Insel Verlag Frankfurt a. M. und Leipzig 2000, 11)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33404
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