SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

23JUN2021
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Und schon wieder passiert es mir: Ich stehe in der Bahn und entdecke neben mir einen Mann ohne Atemschutzmaske. Um uns herum verunsicherte Blicke, alle drehen sich weg. Mich stört es, wenn sich jemand nicht an die Maskenpflicht hält. Ich zögere kurz, überlege, ob ich ihn ansprechen soll. Aber irgendwie ist mir heute nicht danach. Ich habe Sorge, dann in eine Diskussion verwickelt zu werden. Deshalb drehe auch ich mich weg und verlasse das Bahnabteil.

Aber dann ärgere ich mich über mich selbst: Warum habe ich den Mann nicht einfach angesprochen? Wer weiß, warum er keine Maske trägt...

Solche Situationen passieren mir leider oft: Die Raucherin, die ihre Kippe einfach auf den Boden schnipst, statt sie in den Müll zu werfen. Oder der Kollege, der schlecht über eine gemeinsame Kollegin spricht. Das sind Situationen, in denen mein Bauchgefühl sofort Alarm schlägt und die Botschaft sendet: „Sprich es an!“ Und ich bleibe dann doch stumm sitzen und mache gar nichts. Weil ich Angst habe, dass es meinem Gegenüber nicht passt, was ich zu sagen habe. Und weil ich mich sorge, damit nicht gut anzukommen. Und am Ende bleibt dann das Gefühl, dass die Angst gegen mein Bedürfnis, etwas anzusprechen, gesiegt hat.

Audre Lorde bringt das auf den Punkt. Sie hat sich in den achtziger Jahren bei uns in der afroamerikanischen Bewegung engagiert – sie sagt: „Wenn wir sprechen, haben wir Angst, dass unsere Worte nicht gehört oder begrüßt werden. Aber wenn wir schweigen, haben wir immer noch Angst. Also ist es besser zu sprechen.“ Als schwarze Aktivistin und Feministin hat sie eine Ahnung davon, wenn sie so etwas sagt. Sie weiß, wie groß die Angst ist, etwas laut auszusprechen, was anderen nicht in den Kram passt. Genauso hat sie die Erfahrung gemacht, wie groß die Angst bleibt, wenn man nichts sagt und schweigt. Aber sie hat auch erlebt, wie befreiend es sein kann, die eigenen Anliegen auszusprechen. Denn das muss nicht unbedingt nur Stress bedeuten, sondern kann auch ziemlich erfolgreich sein. Auch wenn der Erfolg nur bedeutet, die eigene Angst überwunden zu haben.

Wenn mir das nächste Mal mein Bauchgefühl zuruft: „Sprich es an!“, dann traue ich mich. Weil ich dieser Angst vor Ärger gar nicht so viel Raum in meinem Leben geben will. Weil es sich meistens lohnt, mit meinen Mitmenschen ins Gespräch über etwas zu kommen. Vielleicht lässt sich damit nicht alles lösen, aber manchmal kann man mit einer freundlichen Nachfrage schon viel erreichen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33390
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