Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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23JUN2021
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Mach den Mund auf, wenn Unrecht geschieht. Schau nicht weg, wenn einem anderen Leid zugefügt wird.

Dazu hat Rafik Schami eine Geschichte geschrieben. Rafik Schami ist ein syrisch-deutscher Schriftsteller. Er wird heute 75 Jahre alt. Geboren ist er in Syrien, in Damaskus. Seit 50 Jahren lebt er in Deutschland im Exil. Er ist Christ, Aramäer. Seine Muttersprache ist der Muttersprache Jesu ganz ähnlich. Rafik und Jesus – sie hätten miteinander plaudern können und hätten einander recht gut verstanden. Vermutlich nicht nur sprachlich, auch inhaltlich.

Rafik Schami schreibt Geschichten. Eine meiner Lieblingsgeschichten erzählt von Amin und seinen Zwiebeln. Amin ist ein armer alter Bauer, ein Habenichts. Das heißt, etwas hat er doch: er hat einige Zwiebeln, die er in seinem Mini-Garten hegt und pflegt. Sein Dorf wird regelmäßig von den Soldaten des Königs geplündert. Steuern eintreiben nennen sie das. Der teure Lebensstil des Königs will finanziert sein. Amin bleibt von dem Treiben verschont. Er hat ja nichts, außer seinen Zwiebeln. Irgendwann fängt Amin an, bei den anderen im Dorf nachzufragen, woher sich der König eigentlich das Recht nimmt, wehrlosen Menschen Unrecht zu tun. Die anderen sind erst überrascht, weil er so kühn fragt. Aber als die Soldaten das nächste Mal auftauchen, machen doch manche den Mund auf und widersprechen. Ausgeplündert werden sie trotzdem. Und als die Soldaten herausfinden, dass Amin die Dorfbewohner ermutigt hatte, sich zu wehren, nimmt es für ihn ein schlimmes Ende. Sie verprügeln ihn und bringen ihn um. Die Dorfbewohner sehen stumm zu. Manche zucken nur die Schultern, andere sind entsetzt. Aber niemand hilft ihm. Kein einziger.

Die Zwiebeln trauern um Amin und beschließen: Wir wollen an ihn erinnern. An ihn und seinen Mut. Wenn ihm schon niemand geholfen hat und niemand um ihn weint, dann sollen sie wenigstens um ihn weinen, wenn sie Zwiebeln schneiden. Wenn sie uns künftig in der Küche schneiden, dann wollen wir ihnen die Tränen in die Augen treiben.

Und so ist es geschehen. Bis heute weinen Menschen auf der ganzen Welt um Amin. Jede Träne eine Erinnerung und Mahnung: Mach den Mund auf, wenn Unrecht geschieht. Zeig Mitgefühl. Setz dich für den Menschen ein, der hilflos ist.

Ich denke oft an diese Geschichte. Spätestens, wenn ich wieder Zwiebeln schneide…

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33355
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