SWR2 Wort zum Tag

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18JUN2021
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Menschen leben davon, dass sie sich nicht mit der Gegenwart abgeben. Auch wenn das alle Fans der Achtsamkeit ärgern mag, die stets im Hier und Jetzt leben wollen: Ohne den Mut und die Zuversicht, dass das Leben mehr ist als die sattsam vertraute Gegenwart, säßen wir heute noch in Höhlen um das Lagerfeuer und fürchteten uns vor dem Säbelzahntiger. Damit singe ich nicht das Lied auf einen unbeirrten Fortschrittsoptimismus. Der ist gründlich gescheitert. Woran ich denke sind mutmachende Träume von einer besseren, gerechteren Welt, die uns dabei helfen, uns tatsächlich für eine solche Welt einzusetzen. Eines meiner Lieblingsbilder der Bibel dazu beschreibt, dass einmal jeder Mensch friedlich unter seinem eigenen Weinstock und Feigenbaum sitzen wird. Das steht beim Propheten Micha im Alten Testament. Weil mir das so gut gefällt und weil ich mich täglich daran erinnern will, habe ich mitten in meinen Garten einen Feigenbaum gepflanzt. Jetzt ist das so eine Sache mit Träumen und Feigenbäumen: Man hat beide nicht völlig in der Hand. Im ersten Jahr geschah an meinem Feigenbaum – gar nichts. Ich wollte ihn schon wieder ausgraben, aber der Gärtner, der ihn mir verkauft hat, mahnte zur Geduld. So ein Feigenbaum brauche seine Zeit. Im zweiten Jahr tat sich wieder erst mal nichts, doch ganz am Ende des Sommers brachte der Feigenbaum eine einzige Feige hervor. Als sie reif war, habe ich sie fast missmutig gepflückt. Das Ernteergebnis schien ja nicht unbedingt überwältigend. Aber, was soll ich sagen: Ich habe noch nie eine so köstliche Feige gegessen. Und in diesem Jahr habe ich mit Freude entdeckt, dass sich schon 15 kleine Früchte entwickeln.

Es braucht Geduld auf dem Weg zu einer Welt, in der einmal alle Menschen genug zu essen haben und das Leben und die Früchte der Ernte feiern können. Es kommt die Zeit, in der ein jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen wird. Doch der Einsatz für eine solche friedliche Welt lohnt sich. Schon ein einziger Mensch, der wieder friedlich dort leben kann, wo vorher Krieg war, ist die Mühe wert. 

Daran denke ich, wenn ich in meinen Garten gehe. Dankbar auch dafür, dass wir in Deutschland nun schon so lange vom Krieg verschont sind. Ohne Menschen, die sich tapfer und mutig für Versöhnung in Europa nach den beiden Weltkriegen eingesetzt haben, wäre das nicht möglich gewesen. Sie hatten Visionen von einer besseren Welt. Visionen, wie sie der Prophet Micha erzählt hat, der übrigens in einer alles andere als friedlichen Zeit lebte. Und sich damit nicht abfand, sondern träumte. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken. Es kommt eine Zeit des Friedens. Die Früchte lohnen die Mühe.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33350
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