SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

30MAI2021
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Manches bespricht man am besten unter vier Augen. Das verträgt keine Zuschauer. Und manchmal muss es Nacht werden, damit einer sich richtig öffnen kann für ein Gespräch. Gerade vielleicht für ein Gespräch, in dem es um die großen Fragen des Lebens geht.

In den evangelischen Kirchen wird heute über ein solches Nachtgespräch gepredigt. Nikodemus heißt der Mann, der zu Jesus kommt, heimlich und im Dunkeln. Viel weiß man nicht von ihm: Nikodemus ist Theologe, Mitglied im Stadtrat, allem Anschein nach ein besonnener, angesehener, geachteter Mann. Er sucht das Gespräch mit Jesus. Aber vorsichtshalber will er nicht gesehen werden mit diesem eigenartigen Wanderprediger, von dem er so viel gehört hat. Was würden da die Leute sagen: Er, der angesehene Mann, bei diesem Jesus, der einem schon irgendwie zweifelhaft vorkommen kann. Und trotzdem will Nikodemus das jetzt wissen. Was er von diesem Jesus mitgekriegt hat, interessiert ihn, macht ihn neugierig.

Mir gefällt das. Nikodemus will es wirklich wissen. Er geht nicht zu Jesus, um ihn zur Rede zu stellen oder so. Er muss nicht Recht behalten – er ist noch offen für Neues. Die anderen Leute seiner Zeit machen es sich leicht. Sie stempeln Jesus halt ab. Ist ja auch viel einfacher. Muss man sich nicht mit auseinandersetzen. Hat sein Vorurteil und will das gar nicht korrigieren.

Nikodemus tickt anders. Der lässt sich durcheinander bringen und sucht deshalb das Gespräch. Er hat mitbekommen, dass Jesus Menschen heilt. Dass er von Gott als gutem Vater spricht, interessiert ihn, den Theologen, wohl besonders. Und was Jesus von Gottes neuer Welt sagt. Von Frieden und Gerechtigkeit. Wie er Menschen dazu bringt, dass sie sich Gott anvertrauen. Und dass sich das anfühlt, als wäre man wie neu geboren. Neu geboren – da bleibt er dran hängen. Und so fragt er, der alte Mann, den jungen: „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist?“

Ich höre in dieser Frage auch raus, was Nikodemus wirklich umtreibt. Wie kann einer, wenn er alt ist, noch was vom Leben erwarten? Das Leben ist doch zum größten Teil gelebt. Die Zeit kann man nicht umkehren. Und je älter einer ist, umso weniger kann er noch aus seiner Haut.

Nikodemus fragt: Wie den ganzen Ballast abschütteln, den ich so mit mir rumtrage? Ich bin doch geprägt von meinem Umfeld, den Menschen um mich herum, von meiner Arbeit all die Jahre hindurch. Wie soll das also gehen mit dem Neuwerden als alter Mensch?

Und was antwortet Jesus darauf? Keiner kann das selber machen - neu geboren werden. Da hast Du Recht, mein lieber Nikodemus. Dich neu zur Welt bringen, das kann nur der Geist Gottes! Deine Geburt als Säugling hast du ja auch nicht beeinflussen können, aber sie hat Dir das Leben geschenkt. Du hast nicht darüber verfügen können. Wieso sollte es bei einer Neugeburt anders sein? Bist du noch offen für Geschenke? Denn neu geboren werden ist ein Geschenk! Ein Gottesgeschenk. Du kannst es nicht erzwingen, nicht darüber verfügen, nur darum bitten. Und du kannst wach sein fürs Unverfügbare.

Wachsein fürs Unverfügbare? Das klingt ein bisschen eigenartig. Ich will ein Beispiel machen. Manchmal hänge ich an einem Problem und finde keine rechte Lösung. Dann kann es passieren, wenn ich gar nicht damit rechne, taucht plötzlich eine Idee in meinem Kopf auf, eine mögliche Lösung. Unvermutet und unverfügbar kommt mir ein Gedanke dazwischen und mir geht ein Licht auf. Meist passiert das, wenn ich gar nicht dran denke. Unter der Dusche vielleicht oder beim Spazierengehen.

Kennen Sie das auch? Dieses Gefühl, wenn einem plötzlich ein Licht aufgeht und ein neuer Weg tut sich auf? Es ist ein Gefühl von Neuwerden, finde ich. Etwas Neues fällt mir zu – wie ein Geschenk – unverfügbar.

Wach sein fürs Unverfügbare. So vieles im Leben ist doch ein Geschenk, unverfügbar. Mein Leben verdanke ich anderen. Die Liebe, die ich in meinem Leben erfahre, bekomme ich umsonst. Auch dass ich andere lieben kann, ist ein Geschenk. Die Energie, die Kraft, mit der ich mein Leben gestalte und für andere da sein kann, es ist eigentlich ein Geschenk.

Wach sein fürs Unverfügbare. Ich kann das nur probieren. Immer wieder neu. Aber ich finde, das braucht eine Haltung, wie Nikodemus sie gezeigt hat, als er Jesus aufsucht im Schutz der Nacht: Neugierig bleiben, wohlwollend anderen gegenüber und interessiert und offen sein für Neues. Das wünsche ich mir, dass ich das auch noch kann, wenn ich so alt bin wie Nikodemus

Ich wünsche Ihnen einen frohen Sonntag und eine gute Woche.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33238
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