SWR4 Abendgedanken

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28MAI2021
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Jeder von uns hat einen genetischen Zwilling. Irgendwo auf der Welt. Aber die Chance, ihn zu finden, die liegt bei etwa eins zu einer Million; das ist quasi ein 6er im Lotto. Genetischer Zwilling meint vereinfacht: Wir haben so viele übereinstimmende Gewebemerkmale, dass sie einander umarmen würden, wenn sich unsere Zellen treffen. Zellen von nicht-genetischen Zwillingen bekämpfen sich. Heute, am 28. Mai, ist „Welt-Blutkrebs-Tag“. Dieser Tag erinnert daran, dass es jedes Jahr für tausende Kinder und Erwachsene überlebenswichtig ist, ihren genetischen Zwilling zu finden. Zum Beispiel, weil sie an Leukämie erkrankt sind. Denn dann helfen meist nur neue und gesunde Stammzellen, die vom genetischen Zwilling gespendet werden. Nur ein kleiner Teil findet nämlich den passenden Spender in der eigenen Familie.

Ich finde das großartig. Irgendwo auf der Welt gibt es jemanden, mit dem ich so viel gemeinsam habe, dass ich ihm das Leben retten könnte.

So ging’s wahrscheinlich auch Matthias. Vor 15 Jahren hatte er sich typisieren lassen und stand von da an auf einer Liste als möglicher Spender. Zwei Jahre später kam tatsächlich der Anruf: Seine Stammzellen passten zu 99,9 % auf einen kranken jungen Mann in den USA. Letztes Jahr habe ich von dieser Geschichte in unserer Lokalzeitung gelesen – und Gänsehaut bekommen. Elf Jahre nach der Stammzell-Spende haben sich die beiden Männer zum ersten Mal getroffen, Matthias hat Craig in den USA besucht. Die Begegnung muss berührend gewesen sein. Die beiden Männer und deren Ehefrauen hatten das Gefühl, sie würden sich schon immer kennen. Wenn man dazu das Foto der beiden Männer betrachtet, kann man kaum glauben, dass die beiden nicht verwandt sind: Sie sind fast gleich alt, haben denselben Haarschnitt, tragen beide eine Brille und haben anscheinend sogar dieselbe Jacke, nur in einer anderen Farbe. Die Zwillingshaftigkeit bei Matthias und Craig ist nicht nur auf die Gene beschränkt.

Die Tatsache, dass immer wieder Menschen auf der ganzen Welt ihren genetischen Zwilling finden, das zeigt doch: Wir sind im Grunde genommen miteinander verwandt. Über Länder und Kontinente hinweg, auch wenn es keine gemeinsamen Wurzeln gibt, die man nachweisen kann.

Die Chance, als genetischer Zwilling gefragt zu sein, ist verschwindend gering; ich habe mich trotzdem in diesem Jahr selbst in der Datenbank für Stammzellspenden registrieren lassen. Das ist kein großer Aufwand, man macht einfach mit einem Wattestäbchen eine Speichelprobe und schickt sie ein. Diese Chance, für jemand anderen womöglich ein 6er im Lotto sein zu können, die sollte sich niemand entgehen lassen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33220
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