SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

27MAI2021
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Ich war nur ab und zu in einer Kirche in den letzten 12 Monaten. Aber wenn ich dort war, dann ist mir jedes Mal dasselbe passiert: Ich bin zum Weihwasserbecken gegangen, wollte meine Finger eintauchen und mich bekreuzigen. Doch es war leer. Klar, wegen der Pandemie darf ja gar kein Wasser im Becken sein. Ich bin selbst überrascht gewesen, dass dieses Ritual so präsent geblieben ist.

Das Weihwasser in der Kirche ist ein Erinnerungszeichen. Und zwar an die Taufe. Wer getauft wird, der ist mit diesem Wasser für das ewige Leben bestimmt. Daran soll uns das Weihwasser erinnern. In der Kirche, zuhause, an unseren Gräbern.

Für mich hat das fehlende Weihwasser noch eine andere Erinnerung geweckt: Die an meine Großtante. Sie wurde 99 Jahre alt und hat ihre letzten Lebensjahre bei uns im Haus verbracht. Für sie war das Weihwasser sehr wichtig. Sie hatte einen eigenen kleinen Weihwasserkessel und schaute, dass das Wasser nie ausging. Wenn wir bei ihr unten in der Wohnung gewesen sind, dann gab es für uns immer ein kleines Kreuzzeichen auf die Stirn. Von einer Reise in den Wallfahrtsort Lourdes in Frankreich habe ich ihr einmal Weihwasser mitgebracht. Für mich war es einfach klares Wasser, das ich in meine Trinkflaschen gefüllt habe. Aber für meine Tante war dieses Wasser ein kostbarer Schatz.

Bei ihr habe ich immer gespürt: Weihwasser ist für sie dieses Tauferinnerungszeichen. Sie glaubte an das ewige Leben, auf das sie getauft wurde. Sie hatte nie Angst vor dem Tod. Mir scheint es heute so, als ob die Taufe, als ob dieses Vorzeichen, sie tatsächlich durch ihre beinahe hundert Lebensjahre getragen hat: Durch das Kaiserreich, durch zwei Weltkriege, durch Flucht und Vertreibung, durch Krankheit und Hungerszeiten. Weil sie immer das gute Ende vor Augen hatte.

Es muss nicht das Weihwasser sein. Aber wir brauchen Zeichen und Rituale; um uns festzuhalten und um uns zu erinnern. Das kann der tägliche Gute-Nacht-Kuss der Partner sein um zu zeigen: auch wenn wir heute keinen guten Tag hatten – wir bleiben einander verbunden. Oder das Frühstücksritual, das ich und meine Kinder während der Pandemie im Homeschooling neu entwickelt haben: Immer um 9.20 Uhr, normalerweise die Zeit der großen Pause, treffen wir uns in der Küche. Und unausgesprochen stärkt das unsere kleine Gemeinschaft in dieser besonderen Zeit.

Der Benediktinerpater Anselm Grün hat für solche Zeichenhandlungen eine Beschreibung gefunden, die mir gut gefällt: „Rituale sind Erinnerungszeichen. Sie bringen das, was ich vom Kopf her weiß, in mein Herz und in mein Inneres.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33219
weiterlesen...