SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

26MAI2021
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Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit.[1] So steht es im Buch Kohelet der Bibel. Aber: Ist das tatsächlich so? In der Corona-Zeit kommt es mir vor, als ob es nur für einen Teil dieser Lebenslagen wirklich Zeit gibt.

Mein Sohn hat gerade sein Abitur geschrieben. Das intensive Lernen hatte seine Zeit - das Feiern mit Freunden nicht. Ein 95-jähriger Mann hat seine gleichaltrige Frau durch Corona verloren. Er konnte nicht bei ihr sein: Der gemeinsame Weg hatte seine Zeit – das Abschiednehmen nicht. Das Busunternehmen im Nachbarort musste nach fast 100 Jahren Insolvenz anmelden: Das Arbeiten hatte seine Zeit – das Ernten des Lohnes nicht.

Wenn ich all diese Situationen einzeln betrachte, scheint mir: Durch die Pandemie ist unser Leben ins Ungleichgewicht geraten. Viele erleben momentan vor allem eine Zeit zu verzichten, eine Zeit auszuhalten, eine Zeit loszulassen. Wenn ich aber einen Schritt zurücktrete und aus der Vogelperspektive auf die Pandemie schaue - dann kann ich diese Bibelstelle auch anders lesen und verstehen; in einem größeren Zusammenhang. Dann erkenne ich: Die Zeit der Pandemie ist keine Ausnahme-Zeit. Es gab immer wieder Zeiten, in denen die Menschen geplagt waren und furchtbar gelitten haben. Und andere, in denen Menschen friedlich und ohne Not zusammengelebt haben. Das lehrt mich zu verstehen: Beide Zustände gehören zu einer guten Ordnung der Welt.

Dabei ist es nicht nur der schlichte Wechsel, der die Balance ausmacht. Die vermeintlichen Gegensätze ergänzen sich – und mehr noch: Das eine entsteht in seiner ganzen Fülle oft erst aus dem anderen. Deshalb ist es gut, wenn wir beides tun: Wir klagen über eine momentan schmerzhafte Situation und wehren uns zurecht gegen manche Zustände. Und gleichzeitig können wir an einer Zeit der Hoffnung mitarbeiten: In dem wir diejenigen unterstützen, die die Balance im eigenen Leben gerade nur schwer finden. Meinen Sohn kann ich stärken, indem wir über seine Lebensziele und Träume reden. Dem 95-jährigen steht gerade ein Nachbar zur Seite; der fährt ihn regelmäßig zum Friedhof und hört zu, wenn er von seinem Schmerz erzählt. Der Busunternehmer hat mit seiner Familie an Ideen getüftelt, um neue berufliche Wege einzuschlagen.

Das Leben kommt erst dort ins Gleichgewicht, wo alles seine Zeit hat. Manchmal passiert das nicht innerhalb eines Jahres. Sondern erst im Laufe eines ganzen Lebens.

 

[1] vgl. Kohelet 3

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33218
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