SWR2 Wort zum Tag

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06MAI2021
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Wenn ich mit einem Menschen rede, der Demenz hat, fühlt es sich manchmal an, als sei die Zeit durcheinandergeraten.

Ich denke an eine alte Dame. Sie erzählt von der Flucht 1945. Von der Kartoffelernte als Kind. Von ihrer großen Liebe - einem Freund aus Jugendtagen. Ein paar Mal fragt sie während meines Besuchs nach ihrer Mama. In dem, was sie erzählt, habe ich den Eindruck: Gestern und heute fallen ineinander, Zukunft löst sich auf.

Demenz ist eine fiese Krankheit – gerade auch für die Angehörigen. Sie macht sprachlos und hilflos und oft auch wütend.

Wirklich gut in Kontakt mit den Kranken kommt meist nur, wer sich auf ihre Welt einlässt, wer innerlich mitgeht hierhin und dorthin, wer ein Stück weit aushält, wie fragmentarisch und inkohärent alles ist. Das ist schwer, besonders, wenn mir jemand nahe steht. Auch als Seelsorgerin beschleicht mich dann manchmal das Gefühl, als würde die Zeit auseinanderfallen.

Um damit gut umzugehen, hilft mir eine Idee des Theologen Robert Jenson. Er beschreibt Gott als eine Klammer um die Zeit. Er macht das an Gottes Dreieinigkeit fest. Gott als Vater steht für ihn für die Vergangenheit, der Sohn für die Gegenwart, der Heilige Geist für die Zukunft des Menschen. Der dreieinige Gott ist für ihn ausgespannt über alle Zeiten hinweg, wie eine Klammer, die alles zusammenhält und dabei Vergangenes vergangen sein lässt und die Zukunft offen hält. „Meine Zeit steht in deinen Händen“ – diese alte Glaubenserfahrung gewinnt  in Jensons Bild für mich neue Kraft.

Ich kann die Ordnung der Zeit nicht aufrechterhalten. Ich muss und kann die alte Dame auch nicht dazu bringen, ihre Zeit wieder zu sortieren. Niemand kann das. Aber an manchen Stellen kann ich mich in ihre durcheinandergeratene Welt hineinwagen; etwas von den Gefühlen mittragen, mit denen sie wieder und wieder zu schaffen hat. Das Bild von Gott als Klammer um ihre und meine Lebenszeit hilft mir dabei, weil es mitten im Chaos Halt gibt und trägt. 

Das macht mir Mut. Manchmal wage ich es, gemeinsam mit ihr zu erkunden, welche Schätze wir in ihrer gegenwärtigen Vergangenheit entdecken können. Völlig gleich, wie viel dabei durcheinandergeraten ist. Und was gibt es da nicht alles: Die Kartoffeln, die sie nach der Ernte über dem Feuer grillten, duften und schmecken noch heute. Und ihre erste Liebe ist nach 80 Jahren wieder groß und schön.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33095
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