SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

28APR2021
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Wo ich wohne, gibt es einen Bauernhof, der frische Milch verkauft. Etwas vor mir in der Schlange steht ein Mädchen, so 11/12 Jahre alt. Ich kenne sie nicht und nehme auch nur nebenbei wahr, wer da so alles steht. Auf dem Rückweg sehe ich, dass etwa hundert Meter vor mir jemand auf dem Boden liegt, mit seinem Fahrrad, und gerade versucht aufzustehen. Ich laufe los und tatsächlich: Es ist das Mädchen. Sie reibt sich den Kopf, hat mit der einen Hand die zerbrochene Milchflasche schon aufgehoben, an der anderen blutet sie. Sie habe keine zweite Flasche, sagt sie geknickt. Als klar ist, dass sie sich nicht schlimm verletzt hat, biete ich ihr meine Hilfe an. Gemeinsam gehen wir zurück zum Bauernhof. Die Bäuerin und ich regeln alles. Das Mädchen hat eine neue Flasche mit Milch. Darüber ist sie gleichermaßen erstaunt und glücklich. Wir verabschieden uns. Aber nach ein paar Minuten kommt sie mir hinterher geradelt und bringt mir einen Schokoladenmarienkäfer. Und wir strahlen beide übers ganze Gesicht.

Das ist ja nur eine kleine Begebenheit. Sie könnte sich jeden Tag ereignen. Nichts Besonderes. Aber ich denke mir: Das ist es doch genau, was uns zu Menschen macht. Dass wir auf den anderen achtgeben. Dass wir geben, wenn einer etwas braucht. Und umgekehrt: dass wir einen haben, der gibt, wenn wir etwas brauchen. Im Christentum wird das Nächstenliebe genannt. Aber daran habe ich dort am Bauernhof gar nicht gedacht, das Mädchen auch nicht. Wir haben getan, was uns richtig vorkam. Ganz selbstverständlich, ohne groß nachzudenken. Es war wunderbar spontan. Und das zeigt mir etwas, das ich für ausgesprochen kostbar halte: Wir tragen alle etwas in uns, das automatisch funktioniert, wenn es darauf ankommt. So etwas wie einen natürlichen Mechanismus, der uns das Rechte im richtigen Moment tun lässt. Wir wollen ganz tief in uns, dass es gut geht zwischen uns Menschen. Wir sehen im anderen den Freund, nicht den Feind.

Nun weiß ich schon, dass diese Anlage verschüttet oder gestört sein kann. Leider werden wir allzu oft darauf gestoßen, dass wir einander das Leben schwer machen. Aber ich bin fest davon überzeugt: Das ist nicht das Entscheidende, was in uns ist. Und dass sich das so von ganz allein gezeigt hat wie in dem Erlebnis mit dem Mädchen, das bestärkt mich sehr, daran festzuhalten.

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