SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

02MAI2021
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Das wird ein stiller Frühling, habe ich erst gedacht. Nicht wegen der Vögel. Ich glaube, die singen sogar mehr als sonst. Aber wegen der Menschen. In den Gottesdiensten darf die Gemeinde immer noch nicht singen. Und richtige Konzerte gibt es auch noch nicht. Letztes Jahr wurde von den Balkonen gesungen. Vielleicht hatten wir da noch mehr Hoffnung und mehr Geduld.

Aber nun wird es doch kein stiller Frühling. Dafür sorgt meine alte Nachbarin. Die hat auch schon lange vor Corona vom Balkon gesungen. Am liebsten ganz früh morgens. Wenn sie ihre Wäsche aufhängt. Was sie genau singt, verstehe ich nicht. Wenn es Worte sind, dann sind sie auf Russisch. Aber meistens singt sie einfach ohne Worte. Sie hat eine wunderschöne, warme Stimme. Und ich höre, dass es ihr gerade gut geht. Sicher tut hier und dort was weh. Wenn ich sie auf der Straße treffe, dann geht sie eher langsam. Aber mit einem Lächeln. Dann lächele ich auch. Und das tue ich auch, wenn ich sie singen höre. Dann ist es, als ob der ganze Morgen lächelt!

Erwachsene Menschen singen ja selten einfach so in der Öffentlichkeit. Meine Nachbarin ist da eher eine Ausnahme. Bei Kindern erlebe ich das häufiger. Manchmal treffe ich auf der Straße so ein singendes Kind. Manche Kinder singen auf langen Autofahrten vor sich hin. Als ich klein war, habe ich das auch getan. Aber ich habe auch schon mal singende Erwachsene auf der Straße getroffen.

Manche finden das eher komisch. Vielleicht sogar befremdlich. Aber ich finde es schön. Mir geht es dann gut. Auch wenn ich vorher gehetzt und gestresst war. Oder wenn mich eigentlich etwas belastet. Der Mensch, der da singt, dem geht es gut. Und er möchte etwas davon teilen. Mit mir, mit allen, die zufällig vorbeikommen und es hören. Vielleicht auch mit den Vögeln. Oder mit den Hunden, die auch vorbeikommen. Der Katze, die über die Straße läuft. Den Wespen und Schmetterlingen.

Ich glaube, so spricht Gott zu der Welt! In einer Sprache, die alle verstehen können. Wahrscheinlich sogar die Hunde und die Wespen. Gott singt. Durch eine alte Frau oder einen kleinen Jungen. Das selbstvergessen spielende kleine Mädchen. Den lustigen Mann, der ein, zwei Takte aus einem fröhlichen Lied schmettert. Einfach so, in der Fußgängerzone. Gott singt, und die Welt lächelt.

Ja, ich glaube wirklich, das ist die Sprache Gottes. So teilt Gott etwas mit. Wenn ich jemanden singen höre. Oder wenn ich selbst singe. Ich kenne auch Menschen, die spielen so Geige. Dass es so klingt wie Gesang. Das geht auch mit einer Gitarre. Oder mit einer Flöte oder einer Orgel.

Ich erzähle Ihnen das heute, weil heute ein besonderer Sonntag ist. Manche Sonntage haben Namen. Meistens sind das lateinische Namen. Latein war früher die Sprache der Kirche. Der Sonntag heute heißt „Kantate“. Auf Deutsch: „Singt.“

Mit diesem Wort fängt ein Psalm an, ein Gebet aus der Bibel: „Singt dem HERRN ein neues Lied!“ Das wird heute im Gottesdienst gebetet.

Die Menschen sollen singen, jubeln und Musik machen. So heißt es weiter in diesem Psalm. Ja, sogar das Meer soll vor Freude brausen. Die Flüsse sollen in die Hände klatschen. Und die Berge sollen jubeln. Ein total fröhliches Gebet ist das!

Aber jetzt zögere ich einen Moment. Kann ich einstimmen in diesen Jubel? Kann ich auch so fröhlich singen? Ich kenne viele Menschen, denen ist gar nicht mehr nach Singen zumute. Und manchmal bin ich selbst so voller Sorge oder traurig. Aber sogar dann kann mich Musik aufmuntern oder wenigstens erleichtern.

Es gibt ganz viele tröstliche Lieder. Auch auf Beerdigungen wird ja normalerweise gesungen. Im Moment halt von einer CD. Aber ganz ohne Musik geht es für die meisten Menschen nicht.

Ich bin mir wirklich sicher: Musik ist die Sprache Gottes. Bestimmt nicht die einzige. Aber diese können die meisten Menschen am besten verstehen. Damit können sie ihr Glück und ihr Leid ausdrücken. Wer Musik macht, der sagt weiter, was Gott sagt. Auch wer auf dem Balkon oder auf der Straße singt.

Darum mache ich mir heute auch Sorgen um die Musiker. Um die Menschen, die davon leben, dass sie Musik machen. Für uns alle. In Chören, Orchestern, Kapellen. Oder allein. Ich hoffe sehr, dass wir bald wieder richtig Musik machen und hören können. Und ich hoffe, dass die Musiker wirtschaftlich überleben. Dafür ist das Radio wichtig. Aber dafür brauchen wir auch wieder Konzerte. Musik im Rundfunk oder im Internet: das ist gut. Aber lebendige Musik ist besser.

Vielleicht kennen Sie jemanden, der Musik macht. Vielleicht machen Sie selbst Musik. Sagen Sie bitte weiter: Musik ist die Sprache Gottes. Wenn Gott uns etwas sagen will, dann lässt er jemanden singen. Darum brauchen wir die Musik so dringend. Und darum freue ich mich schon darauf, wenn ich wieder im Gottesdienst singen darf. Mit allen zusammen.

Und heute passe ich genau auf, was Gott mir mitteilt. Durch meine Nachbarin, oder durch wen auch immer. Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32994
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