SWR4 Abendgedanken

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12APR2021
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In seinem Gedicht „Über die Ehe“ richtet sich der libanesische Dichter Khalil Gibran an Eheleute: „[…] steht zusammen, doch nicht zu nah:/ Denn die Säulen des Tempels stehen für sich, / Und die Eiche und die Zypresse wachsen nicht im Schatten der anderen.“

Ich kenne dieses Bild von der Eiche und der Zypresse schon länger. Die beiden (so verschiedenen) Bäume gedeihen besser, wenn sie auf Abstand stehen. Sie nehmen sich nicht gegenseitig das Sonnenlicht, das sie zum Wachsen brauchen. Und sie lassen sich den Raum, in den hinein sie sich ja ausbreiten müssen, wenn sie wachsen. Gibran leitet daraus seine Empfehlung ab, wie eine Ehe gelingen kann. Ich finde, dass das für jede Art von Beziehungen passt. Auch in einer Freundschaft ist es mir wichtig, dass ich meinen Freunden nicht auf die Pelle rücke, sondern ihnen Raum lasse, wo sie sich entfalten können.

Manchmal ist das ein zeitlicher Abstand. Ich habe eine gute Freundin, mit der ich nur alle paar Wochen telefoniere. Aber wenn wir uns sprechen, ist es, als ob wir erst gestern miteinander gesprochen hätten. Wir mögen uns sehr und ich weiß, sie hört mir so genau zu, dass sie schon am Klang meiner Stimme merkt, ob es mir gut geht oder nicht. Und umgekehrt, höre ich genauso zwischen den Zeilen, wenn sie mir erzählt, was bei ihr gerade los ist. Dass wir uns nur in Abstanden hören, ist kein Defizit. Wir lassen uns gegenseitig Freiräume. Das geht auch, weil wir wissen, dass wir uns jederzeit aufeinander verlassen können. Wenn es mal hart auf hart kommt, finden wir schnell zueinander.

Dass ich Distanz halte und gleichzeitig jemandem sehr nahe sein kann, habe ich im letzten Jahr immer wieder lernen müssen. In der Pandemie ist „Abstand halten“ ein Baustein der Aha-Regeln geworden. Aber auch wenn ich das fast nicht mehr hören kann, das Bild von der Eiche und der Zypresse zeigt, dass da mehr Gutes dran ist, als ich momentan sehen mag. Und dieses Gute will ich wenn die Pandemie vorbei ist, in normale Zeiten hinüberretten.

Wenn ich Freunde wieder in den Arm nehmen kann, werde ich das sehr bewusst genießen. Und mich gleichzeitig erinnern: Wenn ich äußerlich Abstand halte, muss das nicht bedeuten, dass ich mich innerlich von einer Freundschaft distanziere.

Ich meine, die folgende biblische Szene beschreibt nichts anderes: Jesus und Maria Magdalena sind eng befreundet. Nach dem Tod Jesu begegnet sie ihrem Freund, dem Auferstandenen. Als sie ihn berühren will, hält er sie körperlich auf Distanz. Und sie gewährt ihm den Freiraum. Denn wirklich trennen kann die beiden nichts voneinander.

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