SWR2 Wort zum Tag

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31MRZ2021
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In der litauischen Hauptstadt Vilnius gibt es einen sehr speziellen Stadtteil, der heißt „Uzupis“. Er liegt am Rande der Altstadt und ist an drei Seiten vom Fluss Vilnia begrenzt. Dort haben sich Künstler, Aussteiger und Philosophen niedergelassen, und sie haben eine eigene Republik ausgerufen. Sie heißt „Republik Uzupis“. Das Parlament ist ein Szene-Café. Dort steht eine Bronzetafel mit der eigenen Verfassung. Sie besteht aus 41 Gesetzen. Manche davon klingen etwas verrückt, aber es wird deutlich, dass die Bewohner von Uzupis die Umwelt respektieren und gut miteinander auskommen möchten.

Da heißt es zum Beispiel: „Jeder Mensch hat das Recht, am Fluss Vilnia zu leben, und der Fluss Vilnia hat das Recht, an jedem vorbei zu fließen.“ Oder: „Jeder Hund hat das Recht, ein Hund zu sein.“ Es gibt auch Artikel, die sich fast schon religiös anhören, z.B. Artikel 4: „Jeder hat das Recht, einzigartig zu sein.“ Oder Artikel 31, der lautet: „Jeder Mensch darf frei sein.“

Uzupis hat auch Botschafter, nicht nur für bestimmte Länder, sondern auch für Themen. So gibt es die „Botschafterin der Pusteblume“ oder den für das „Flötenspielen auf der Straße“. Ein Botschafter ist sogar der Dalai Lama. Der Grund dafür liegt in Artikel 16 der Verfassung von Uzupis. Der heißt genau gleich wie eine buddhistische Regel: „Jeder hat das Recht, glücklich zu sein.“

Für mich ist Uzupis ein symbolischer Ort für alles, nach dem sich die Menschen sehnen: etwa frei und glücklich zu sein oder im Einklang mit der Natur zu leben. Geheilt zu sein - nicht nur von Krankheiten, sondern von allem, was schmerzt: von Verfolgung oder davon, seine Meinung nicht frei äußern zu können. Friedlich zusammenleben im Kleinen wie im Großen: in Familien, mit den Nachbarn, unter Völkern, und am besten dauerhaft. Oder sich frei entfalten zu können - ohne sich behaupten oder erklären zu müssen und ohne nach der Meinung anderer schielen zu müssen.

Für viele bleiben diese Sehnsüchte unerreichbare Träume. Aber in Uzupis – da fangen sie an, den Traum wirklich werden zu lassen. Bestimmt gibt es auch dort Leute, die sich streiten oder neidisch sind. Es gibt Kranke und Gesunde, Arme und Reiche – wie überall. Aber trotz allem ist es ein Ort, an dem Menschen versuchen, an ihren Träumen zu basteln – das bewundere ich.

Morgen ist in Uzupis großer Feiertag. Jedes Jahr am 1. April gibt es Umzüge, es wird gewählt, und vor fast 20 Jahren wurde auf dem großen Platz auch das neue Symbol der Republik enthüllt: ein goldener Engel mit Trompete, der wie ein Herold die Freiheit verkündet, und dass es sich lohnt dafür zu kämpfen und davon zu träumen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32874
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