Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.“ sagt der Volksmund. Klingt plausibel. Ich kann doch den Tag nicht loben, wenn er erst vor mir liegt. Wer weiß, was heute noch alles passiert. Am Abend, wenn der Tag gut gelaufen ist, dann kann ich vielleicht ein Loblied auf ihn singen. Vorher hat das keinen Sinn.
Karl Rahner, einer der größten Theologen des letzten Jahrhunderts, sieht das anders. Er meint: Man soll den Tag vor dem Abend loben. Ganz bewusst. Und er erläutert das so:
„Lob den Tag schon vor dem Abend. Dann empfängst du ihn nicht mit Misstrauen und Vorsicht, sondern mit dem Lob des Vertrauens, der Zuversicht, dann wird der Tag so, dass du ihn am Abend mit Recht loben kannst. Dann geschieht es auch mit dem Tag, wie es bei Menschen, oder wenigstens bei Kindern geht: sie werden das, wofür man sie hält.“ (Karl Rahner, Sehnsucht nach dem geheimnisvollen Gott. Profil – Bilder – Texte. Hg. von Herbert Vorgrimler, Herder Verlag, Freiburg-Basel-Wien 1990, S. 92-93.)
Das hat mir eingeleuchtet: Die Einstellung, mit der ich in den Tag hineingehe, ist entscheidend. Sie bestimmt, wie ich den Tag erlebe, wie er für mich wird.
Wer morgens skeptisch oder lustlos startet, der wird dann auch wenig Freude und Erfüllung erleben. Nicht, weil es 24 Stunden lang nichts Schönes gäbe, sondern weil die negative Erwartung den Blick dafür trübt. »Self-fullfilling prophecy« nennen das die Psychologen, die sich selbst erfüllende Prophezeiung. Aber das funktioniert auch umgekehrt: Wenn ich zuversichtlich in den Tag gehe, hoffnungsvoll und mit Vertrauen, dann kann ich den ganzen Tag lang die hellen Farben des Lebens wahrnehmen und genießen.
Auf die Einstellung kommt es also an. Für mich ist jeder Tag ein Stück Lebenszeit, das Gott mir schenkt. Ich glaube, dass Gott jeden Menschen trägt und hält, gleich, was passiert. Wenn das so ist, dann kann ich mit einem tiefen Grundvertrauen in jeden Tag hineingehen, gelassen, mit kindlicher Entdeckerfreude. Gott spielt mir auch heute wieder Leben zu – ich muss den Ball nur aufnehmen.
Deshalb versuche ich, den Tag vor dem Abend zu loben. Ich zwinkere ihm morgens zu und begrüße ihn freundlich. Und freue mich auf die nächsten Stunden Lebenszeit, die vor mir liegen. Im Vertrauen auf Gott, der mich auch heute trägt und begleitet.“


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