SWR2 Wort zum Tag

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08APR2021
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Der Tag, an dem alle Corona Beschränkungen aufgehoben sind –  wie sehnen wir uns den herbei! Die körperliche Starre, das Einfrieren von Berührungen hat dann hoffentlich ein Ende. Über ein Jahr sind wir so oft mit Telefon, Mails und Videokonferenzen in Wort und Bild verbunden - ohne körperliche Berührungen. Gewiss sind auch da sehr berührende Momente dabei. Aber: Präsent in Wort und Bild ist nicht körperpräsent – mit Händedruck, Umarmung und Küssen.

Wie viel hat mir beim Abschied von einer sterbenden Frau im Altenheim – trotz Corona-Schutzanzug und Latexhandschuhen –das Händehalten bedeutet. Ihr Händedruck nach Vaterunser und Segen. In einer einzigen Körpergeste habe ich eine tiefe Gemeinschaft erlebt, wie ein Vermächtnis, wie ein Schwur, wie ein Letztes: „Wir bleiben verbunden!“

Auch ein Zuspruch hat Gewicht. Doch ein Zuspruch mit Handauflegen – mit Schulterklopfen – mit einem zärtlichen Streichen durch die Haare und einem Kuss – das hat eine andere Qualität. Sich sehen und sich aussprechen, kann schön sein. Doch die körperliche Berührung stiftet noch einmal eine andere Intensität von Begegnung, die wir/ich so dringend wieder brauche/n.

In der Bibel tauchen Körpergesten dann auf, wenn es um starke Empfindungen geht. Beim Wiedersehen, wenn der Vater den verlorenen Sohn um den „Hals fällt und ihn küsst“. Im Augenblick der Versöhnung, wenn die entzweiten Brüder Esau und Jakob sich umarmen und weinen. Als Zeichen der Zuneigung, wenn Jesus die Kinder herzt – auf den Arm nimmt und sie segnet. Das ist ein Teil unserer Kultur geworden.

Im digitalen Zeitalter, wo immer mehr Lebensvollzüge auf das Kognitive ausgerichtet sind, sind Berührungen noch wichtiger – geradezu lebensnotwendig. Es heißt, schon vor Corona hätten „die meisten Erwachsenen in Europa gerade mal ein paar Minuten Körperkontakt am Tag.“ Ob die Pandemie diese Tendenz noch verstärkt hat?

Laura Cruciabelli – eine Stockholmer Kognitionsforscherin – erwartet das Gegenteil, nämlich eine „Renaissance der Berührung“. Die Pandemie habe Narben hinterlassen, sagt sie, eine Art Phantomschmerz durch fehlende Umarmungen, Handschläge und Schulterklopfen.[1]  

Es könnte sein, dieser Schmerz löst einen Hunger nach Nähe aus. Wie schön wäre das! Mir jedenfalls geht jetzt schon das Herz auf, wenn ich daran denke, wie ich bald aus dem Fenster schauen werde und dann wieder spielende Kinder sehen kann – die ohne AHA-Regeln – miteinander toben – hautnah.

 

[1] Zitate in: Marija Latkovic, GESUNDHEITBERÜHRUNGEN, Wie die Pandemie unser Bedürfnis nach Körperkontakt verändert, Welt - 28.2.2021; s.a. „Haut an Haut – Eine kurze Kulturgeschichte der Berührung“ bis 28. Mai 2021 in der Arte-Mediathek zu finden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32851
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