SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Genug kann nie genügen“, singt Konstantin Wecker in einem seiner Lieder. Und drückt damit das Lebensgefühl seiner Generation aus – womöglich auch der zur Zeit so beachteten 68er Generation. So stand es nämlich - vor vierzig Jahren - im Mai 1968 an den Pariser Hauswänden: „Survivre, c´est nest pas vivre.“ - „Überleben ist kein Leben!“ - zum Leben im emphatischen Sinn gehört mehr - immer mehr. Ist das so? Und was ist mehr?

Merkwürdig genug: Auch Jesus spricht ähnlich emphatisch von „Leben“. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, (sagt er von sich). Aber auch im Blick auf das Leben der Anderen redet er so zugespitzt: „Ich bin gekommen, um ihnen das Leben zu geben, Leben im Überfluss.“ So steht es wortwörtlich im Johannesevangelium (Johannes 10,10): „Leben im Überfluss“. Es geht Jesus nicht nur um ein Überleben, sondern um ein „Leben im Überfluss“, um ein Leben „in Fülle“, wie andere dieses Wort auch übersetzen - um „mehr als genug“.

Das irritiert mich. Ist Jesus etwa ein Wegbereiter der Überflussgesellschaft? Und gefährdet nicht gerade heute der materielle Überfluss in den Industriegesellschaften das Überleben auf diesem Planeten? Die einen kaufen alles Erdenkliche, was sie zahlen können, haben Essen, Kleider, Reisen – alles - aber wirklich alles im Überfluss –- und den Anderen fehlt das Nötigste. Dieser Überfluss – denke ich zerrüttet die Lebensgrundlagen weltweit - sozial und ökologisch.

Kann es denn nicht ein Leben geben zwischen bitterer Not und maßlosem Überfluss? Mir scheint, Martin Luther hat an so ein Leben gedacht, als er dieses Jesuswort anders übersetzt hat. Luther übersetzt nicht „Überfluss“ sondern in seiner Übersetzung verspricht Jesus „Leben und volle Genüge“.
Am besten erklärt die Jugendsprache, was „volle Genüge“ heißt. Jugendliche reden oft davon, dass etwas „voll gut“ ist. Und was „voll gut“ ist – das ist nicht mehr zu toppen – da gibt es keine Steigerung mehr. „Volle Genüge“ ist also: voll genug, voll befriedigend – und das reicht in jeder Hinsicht. Für Luther gehörten dazu: „Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter, alles, was not tut für Leib und Leben.“ (Katechismus)

Ich möchte darüber nachdenken, was „voll genug“ ist, ohne Verzichtsparolen und ohne besinnungslosen Konsum: wo ich zu viel Medien konsumiere und zu wenig Zeit mit Freunden verbringe, wo ich mir das X-te Paar Schuhe kaufe – aber an Biolebensmitteln spare. Damit ich dahinter wirklich „Leben und volle Genüge“ habe.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=3278
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