SWR2 Wort zum Tag

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15MRZ2021
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Fast 8 Millionen Menschen weltweit haben die Rede dieser jungen Frau im Internet angeschaut. Es ist der Vortrag der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Adichie. Sie beginnt so: „Ich bin eine Geschichtenerzählerin. Und ich möchte ihnen ein paar persönliche Geschichten erzählen, über das, was ich „Die Gefahr der einzigen Geschichte“ nenne.“

Im englischen Original lautet der Titel treffend: „The danger of a single story.“

Mir ist es auch wieder klargeworden: Wenn ich nur eine einzelne Geschichte über eine Person oder eine Situation kenne, dann ist das die Grundlage für Stereotype und Vorurteile. Denn wenn ich nur einen kleinen Teil von etwas kenne, das in Wirklichkeit viel komplexer ist, dann übersehe ich ganz viel. Meine persönliche Sicht ist eingeschränkt.

Ein konkretes Beispiel erzählt Chimamanda aus ihrer Kindheit: In ihrer Familie lebte ein Junge als Haushaltshilfe. Jedes Mal, wenn sie als Mädchen nicht aufessen wollte, wurde sie ermahnt, die Familie des Jungen sei so arm, dass sie kein Essen hätten, und deshalb solle sie das Essen wertschätzen. Weiter berichtet sie, dass sie eines Tages die Familie des Jungen besuchte. Seine Mutter hatte mit viel Geschick einen Korb geflochten. Chimamanda war völlig überrascht. Sie hatte immer nur die Armut der Familie im Kopf und konnte sich bis dahin schlicht nicht vorstellen, dass arme Menschen etwas so Kunstvolles herstellen können.

Ganz ehrlich schildert Chimamanda, wie sie sich immer wieder in ihrem Leben geschämt hat, wenn ihr klargeworden ist, dass sie Vorurteile hatte.

Natürlich kann kein Mensch jemals die gesamte komplizierte Weltgeschichte und all die persönlichen Geschichten der Menschen kennen. Ich muss auswählen.

Aber es ist wichtig, dass ich immer wieder aufs Neue hinterfrage. Dass ich die Geschichte, die ich gerade erfahre, als eineGeschichte von vielenhöre. Dass ich mir bewusst bleibe, dass ich möglicherweise nicht alle Seiten einer Sache kenne. Niemand lebt ohne Vorurteile. Aber wenn es mir gelingt sie mir bewusst zu machen und sie auf den Prüfstand zu stellen, dann habe ich schon viel erreicht.

Chimamanda Adichie hält hier weder eine Moralpredigt noch richtet sie den Zeigefinger auf andere. Selbstkritisch bringt sie ihre Gedanken zu Wort. Und das inspiriert.

Für mich bedeutet das, dass ich vorsichtig werde, wenn mir einfache Geschichten z.B. über kriminelle Jugendliche oder nichtintegrierte Migranten, erzählt werden. Ich will hellhöriger werden, wenn es um vermeintlich einfache politische Lösungen geht.

Ich bin überzeugt, die Welt ist nicht schwarz-weiß, sondern farbig und bunt. Und darin gibt es auch ganz viele Geschichten.

 

(Chimamanda Aditschié)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32758
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