Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

10MRZ2021
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Wolfgang Thierse, der ehemalige Bundestagspräsident, wurde in einem Interview gefragt: Welches Erlebnis hat Sie in der Corona-Zeit am stärksten bewegt? Der Politiker musste nicht lange überlegen. Es war ein Ereignis in seiner Heimatstadt Berlin. Da hatten sich zu Pfingsten 2020 rund 3000 Menschen auf dem Landwehrkanal zu einer Schlauchboot-Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen versammelt. Natürlich ohne Abstand und Masken. Zum Abschluss feierten alle eine feucht-fröhliche Party mit lauter Musik. Bis in die Nacht hinein ging hier in Kreuzberg die Post ab. Und das genau vor einem Krankenhaus, in dem zur gleichen Zeit Ärzte und Pflegekräfte auf der Intensivstation um das Leben der schwerkranken Covid-19-Patienten kämpften. Unfassbar!

Ich denke, jeder konnte und kann in der Pandemie ähnliche Erfahrungen machen. Nein, der Mensch ist nicht einfach nur „gut“. Das wussten schon die Autoren der Bibel. Im Rahmen der Sintflutgeschichte stellt Gott resigniert fest: „Das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an.“(Gen 8,21) Menschen nutzen die ihnen von Gott geschenkte Freiheit leider auch zu Lasten der Freiheit anderer.

In der Coronakrise zeigt sich, wie zutreffend das jüdisch-christliche Menschenbild ist. Es gibt Männer, Frauen und Jugendliche, die sich bis zur Erschöpfung um ihre gefährdeten Mitmenschen kümmern. Großartig! Aber da sind auch Zeitgenossen, die rücksichtslos und ohne Mitgefühl nur ihren Egoismus ausleben wollen. Sie wollen sich einfach nicht in die Situation anderer hineinversetzen.

Die meisten Psychologen gehen davon aus, dass die Fähigkeit zur Empathie ab dem 4. Lebensjahr entwickelt wird. Entscheidend ist dann die Erziehung. Rücksichtnahme muss vermittelt, eingeübt und vorgelebt werden.

Die Pandemie zeigt es überdeutlich: Hilfsbereitschaft und Mitgefühl sind keine veralteten Höflichkeitsformen, sondern unverzichtbare Werte. Wenn sie nicht mehr gelebt würden, verkämen wir zu einer kalten, herzlosen Gesellschaft. Die Statistiken zeigen: Selbstverwirklichung „auf Teufel komm raus“ tötet.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32741
weiterlesen...