SWR4 Abendgedanken

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02MRZ2021
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Manche Sätze vergisst man nicht. Plötzlich sind sie wieder da. So ist es mir jetzt gegangen; in dieser Zeit, in der weltweit so viele Menschen sterben. Da ist der folgende Satz aus meiner Erinnerung aufgetaucht: „Mein Leben war die Hölle, aber sterben … sterben werde ich im Paradies“. Dieser Satz macht mich bis heute sehr nachdenklich. Weil Leben und Tod darin die Rollen tauschen. Hernandez hat diesen Satz zu mir gesagt, als er 64 Jahre alt war. Ich bin Hernandez in Rio de Janeiro in Brasilien begegnet. Vor 14 Jahren. Damals habe ich mit meiner Kirchengemeinde Partnerschaftsprojekte in Südamerika besucht. Ich konnte mir bis dahin nicht vorstellen, wie qualvoll ein Leben sein muss, damit jemand die letzte Lebensphase als paradiesisch beschreibt.

An einem Tag sind wir im Pflegeheim Santo Antonio gewesen, direkt am Fuße der berühmten Christusstatue. Hernandez hat in diesem Pflegeheim gelebt. Santo Antonio ist ein ganz besonderer Ort: Dort leben nur Männer und meist nur für kurze Zeit. In der letzten Phase ihres Lebens. Dann, wenn sie nicht mehr ausreichend für sich selbst sorgen können. Denn eines haben alle Bewohner gemeinsam – sie haben Aids. Das Heim liegt am Rande eines Elendsviertels von Rio; dort sterben viele HIV-Infizierte auf der Straße. Einsam und ausgestoßen. Santo Antonio gibt es jetzt seit fast 30 Jahren, bis heute. Die meisten Männer leben einige Monate im Pflegeheim, manche länger, manche sogar einige Jahre. So wie Hernandez. Dieser Ort ist ein großes Glück für ihn. Das erste Mal hat er ein festes Dach über dem Kopf. Sein ganzes Leben hat er bis dahin auf der Straße verbracht. Als ich mit ihm spreche, liegt eine große Ruhe in seiner Stimme. Er sagt mir: „Das hier ist mein Haus. Vor dem Tod, habe ich keine Angst mehr.“  In Santo Antonio ist er schließlich betreut, versorgt und würdevoll begleitet worden, bis zuletzt.

Die letzte Lebensphase ist eine wertvolle Zeit. Es ist die letzte Gelegenheit, einem Menschen seine Würde zurückzugeben. Ich vergesse nicht, was Hernandez mir gesagt hat: Ganz egal was vorher war - wenn das Ende gut ist, dann ist ganz Vieles gut.

An die Ränder gehen und die Menschen am Rand der Gesellschaft in den Blick nehmen. Und sie vom Rand in die Mitte holen. Das ist der Auftrag für alle, die sich auf Jesus berufen. In ganz Europa gibt es bisher nur ein einziges Hospiz für Menschen ohne Obdach. Das sollte uns nachdenklich machen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32686
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