SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

19FEB2021
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Ich bin ja noch in einer Zeit aufgewachsen, als das Telefon ein kleines Wunder war. Erst als ich 1975 in die fünfte Klasse kam, haben meine Eltern ein Telefon angeschafft. Ich brauchte nur zu wählen, und schon konnte ich mit dem Kumpel am anderen Ende der Stadt quatschen. Als Student - wir waren zu dritt in einer WG - war der Telefonapparat fast das wichtigste Utensil im ganzen Haushalt. Abends gab es manchmal regelrechte Verteilungskämpfe, wer dran ist und wer warten muss: Kontakt nach Hause, zu Freunden. An einigen Abenden hat der Apparat regelrecht geglüht. Es war wichtig zu wissen, wie es den anderen geht. Es gab immer etwas zu besprechen. Inzwischen, mit Computer und Smartphone, gibt es viele neue Möglichkeiten, in Kontakt zu sein. Aber nicht alle können die nützen. Und manche taugen auch nicht für eine richtige Verständigung.

Ich jedenfalls habe das Telefonieren in den letzten Monaten wiederentdeckt. Ich spüre, wie gut es mir tut, die Stimme des Menschen zu hören, der mir eine Nachricht geschickt hat oder an den ich in letzter Zeit mehrmals gedacht hatte. Jemanden zu hören, spontan zu reagieren - das ist etwas ganz anderes, als Buchstaben und Wörter hin her zu schicken. Ich höre den Klang der Stimme, die so viel über einen Menschen verrät. Ich höre die Zwischentöne, wenn wir uns über ein kontroverses Thema austauschen. Ich spüre die Stimmung am anderen Ende der Leitung, die Gefühle, die mit ins Spiel kommen. Am Telefon kann man weinen und lachen. Und sogar schweigen. Ein paar Augenblicke nichts sagen, nur den Atem des Gesprächspartners hören, und so wissen, dass da ein lebendiger Mensch ist. Und dass in diesen Augenblicken nur wir zwei verbunden sind. Das genieße ich. Das tut mir gut. Und es ist ein Mittel dafür, dass mir in diesen langen Monaten der Pandemie nicht die Decke auf den Kopf fällt. Für mich geht das mit keinem anderen Kommunikationsmittel so gut wie mit dem Telefon: einen Menschen zu spüren, ihm nahe zu sein.

Auch heute Abend werde ich jemanden anrufen. Irgendwann nach sieben, bevor ich zu Abend esse, vor der Tagesschau. Nichts Berufliches, ganz privat. Ohne tiefere Absicht, ohne Grund, ohne Anlass. Einfach so. Den anderen wissen lassen, dass ich an ihn denke, hören, wie es geht. Ein bisschen Nähe. Ohne Maske. Ohne Abstand.

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